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Julien Gracq: Lebensknoten

Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen


Felix Philipp Ingold
Neues aus dem Nachlass von Julien Gracq
Anzuzeigen sind zwei Meisterstücke, beide unvollendet, doch in ihrer Art vollkommen


Mit zwei schmalen Neuerscheinungen ist der Romancier und Essayist Julien Gracq (1910-2007) im heimatlichen Frankreich vor kurzem noch einmal nachdrücklich in Erinnerung gebracht worden. Es handelt sich dabei um Erstdrucke aus seinem Nachlass, herausgegeben mit Rückgriff auf erst neulich entdeckte Skripten, die Gracq einst unabgeschlossen ad acta gelegt hat. Die beiden Texte eröffnen keine neuen Themen und auch keine zusätzlichen formalen Qualitäten des Autors, der durch seine Werkausgabe in der Bibliothèque de la Pléïade bereits als «Klassiker» der französischen Moderne etabliert ist; aber sie bestätigen eindrücklich die Exzellenz seiner Schreibarbeit und seines ebenso eigensinnigen wie erhellenden Denkens.

I

Gerade mal 28 Druckseiten umfasst ein Prosafragment, das nun – 16 Jahre nach Gracqs Tod – unter dem Titel «Das Haus» (La maison) in Buchform greifbar ist¹. Eine kleine Erzählung von grösster Meisterschaft, fast ohne Handlung, fast nur Beschreibung: Kurzer Fussmarsch zur Zeit der deutschen Okkupation in der desolaten französischen Provinz; beschwerlicher Gang durch einen verwahrlosten, düsteren, von sperrigem Dickicht besetzten Landstrich hin zu einem abgelegenen Haus, das den Wanderer und Icherzähler aus der Ferne wie ein magisches Faszinosum anzieht, sich dann aber als eine baufällige, von der wilden Vegetation überwucherte Villa erweist.
           Den Kreuzweg von der Landstrasse zum Objekt der Neugier und Begierde draussen in der feindlichen Natur vergegenwärtigt Gracq als einen frustrierenden Leidensweg, den der Suchende, über Totholz stolpernd und von schnellenden Zweigen gepeitscht, abzuschreiten hat «in diesem schlimmsten Winkel einer tauben und stummen Gegend», einem «wirren Gelände mit magerem Eichen- und Kastaniengehölz», «der holzige Erdgrund ausgelegt mit faulem Laub, das Astwerk der Zwergeichen gewunden und abweisend», alles nur «jämmerlich und kränklich» – ein unerwarteter Leidensweg, den der Autor mit kinematographischer Präzision als Lebensweg des Wanderers vergegenwärtigt und zugleich symbolisch überhöht.
       Das majestätisch verfallende Haus inmitten der fast undurchdringlichen Waldung erweist sich («noch intakt und doch auf makabre Weise gealtert und – ausser Betrieb stehend») zunächst eher als ein Trauer- denn ein Märchenhaus, am ehesten als eine Endstation, wo es «nichts mehr zu suchen» gibt, «bewohnbar nur im äussersten Fall», bis sich die «offenkundig verlassene» Villa plötzlich – ganz diskret – zu beleben scheint: Aus dem Innern vernimmt der abgehetzte und ernüchterte Wanderer eine Frauenstimme von nie zuvor gehörter Reinheit, «weit jenseits von Heiterkeit und Traurigkeit, sehr altertümlich und gleichzeitig wundersam wiedergekehrt», ja, «wundersam morgendlich».

Die Abgehobenheit dieser Stimme wird gleich noch überboten, als der Icherzähler mit Blick nach oben am Rand des Balkons «die Spitzen zweier nackter Füsse» und gleich darauf das ungebändigte, wallend herabrauschende Blondhaar einer Frau gewahrt. Sonst nichts. Es ist für ihn alles. Alles für ihn allein. Die Erfüllung einer unklaren, unsagbaren Sehnsucht. Ein jäh realisiertes Märchen. Gracq berichtet darüber sehr diszipliniert, ohne jede Sentimentalität, völlig kitschfrei – man könnte den knappen Text als eine allgemeinmenschliche, realistisch abge-fasste Tragödie mit zeitgeschichtlichem Hintergrund lesen, die in der Schönheit ihre letzte, gänzlich unerwartete Rettung findet, einer Schönheit, die sich wohl offenbart, nicht aber zu bewältigen, nicht zu vereinnahmen, nicht einmal anzurühren ist.
Die wenigen Seiten, auf denen Julien Gracq dieses «Haus» buchstäblich vor Augen führt, es sinnlich erfahrbar macht und dennoch jedem Zugriff entzieht, eröffnen in allerbester Prosa eine mögliche Welt, die sich für die Zeit der Lektüre unab-weisbar als Wirklichkeit eigener Ordnung behauptet.

II

Was Gracq unter dem Arbeitstitel «Lebensknoten» in seinen späten Lebensjahren aus unterschiedlichen Zusammenhängen (Aufzeichnungen, Tagebüchern, Werkskizzen) zu einem Buchprojekt kompiliert, leider aber nicht zum Abschluss gebracht hat, liegt neuerdings – herausgeberisch arrangiert und begradigt – im Druck vor. Der schmale Band präsentiert in vier Sektionen beschreibende Prosa (Biosphäre, Landschaft), Notate autobiographischen und kulturkritischen Charakters sowie Mikroessays über eigene Lese- und Schreiberfahrungen. Alle Einzugsbereiche von Gracqs Interessen und Talenten werden hier knapp zur Geltung gebracht – das Buch erbringt, seiner formalen Bruchstückhaftigkeit und gedanklichen Inkohärenz zum Trotz, eine verlässliche, dabei höchst anregende Einführung in das umfängliche Werk dieses singulären Autors.²
           Auch in der vorliegenden knappen Textauswahl beweist Julien Gracq seine sinnliche Wahrnehmungskraft und seine stilistische Exzellenz. Auch hier dominiert die exakte, dabei auratisch gehöhte Beschreibung unscheinbarer Gegenstände und Episoden den erzählerischen Impetus; sie lebt sich aus in einem perfekten Gefüge von zumeist vielgliedrigen Sätzen, welche das Objekt der Darstellung gleichsam einkreisen und wie ein Stillleben (nature morte) festschreiben; so wie – zum Beispiel – hier: «Im Kiefernwald. Ich laufe durch einen Hohlweg aus Treibsand zwischen zwei Dünen; eine Viper liegt ausgestreckt in der Sonne, reglos. Ihre Haltung mitten auf dem Weg spricht so sehr für ein totes Tier, dass ich unbesogt vorübergehe, doch als ich mich umdrehe, sehe ich, wie sie mit fliessenden Bewegungen träge in den Schutz der Büsche zurückkehrt. Seltsam der Alarm, der meine Nerven durchzuckt: Einen Augenblick lang bin ich am Ursprung der Panik.»
           Zahlreiche derartige Miniaturen sind in den Gracq’schen «Lebensknoten» gleichrangig nebeneinander aufgereiht – ein dichtes Gewebe, das der nüchternen Prosa zum Trotz immer auch, quasi naturgemäss, poetische Qualitäten gewinnt. Diese Qualitäten zu retten und zu bewahren, ist ein vorrangiges Anliegen des Autors, der als illusionsloser Skeptiker bemüht bleibt, in klassisch klarer, wenn auch komplexer Sprache aufzuheben, was (für ihn fraglos) dem Untergang geweiht ist, so etwa – ein Beispiel für viele – der Gemüsegarten, die Selbstversorgung mit naturgegebener Nahrung, kraft eines verlässlichen «Pakts mit den rohen chthonischen Mächten»: «Der lebenswichtige Kontakt der pflanzenden und jätenden Hand mit dem Boden, das bescheidene physiologische und doch strahlende Glück, der trockenen Erde freigiebig Wasser zu spenden, auf die grünen Triebe zu lauern, die den Sand über der Saat durchbrechen, zu verfolgen, wie die Bohnenranke kletternd ihre Stange ziert, all das wird uns wohl unwiderruflich fremd


Gibt Julien Gracq mit Blick auf die natürliche und gesell-schaftliche Umwelt seinen strengen Konservatismus zu erken-nen, so zeigt er sich, nicht weniger streng, in kulturellen Dingen, vorab im Umgang mit Literatur, bedenkenlos als ein überzeugter Reaktionär: Unerschütterlich steht er zum Kanon, er baut auf althergebrachte künstlerische Werte und Techniken, er verachtet Gelegenheits- und Gefälligkeitsliteratur ebenso wie politisch oder ideologisch «engagierte» Schriftstellerei, Preise und andere Ehrungen desavouiert er als schnöden Lohn für Mediokrität – eine schonungslose, gleichermassen selbstsichere und fatalisti-sche Positionsbestimmung, die allerdings auch harsche Selbst-kritik nicht ausschliesst. Gracq ist sich durchaus bewusst, mit seinem eigenwilligen Werk längst aus der Zeit gefallen zu sein, «keine Schriftstellerkollegen mehr zu haben», kaum noch «verstanden» zu werden und eigentlich schon zu Lebzeiten ganz der Vergangenheit anzugehören. Das scheint ihn aber kaum zu belasten, hält er doch die Literatur insgesamt für «den schlimmsten Wirrwarr von Widersprüchen, Verschlagen-heit, Missverständnissen und Verrat». Ein schärferes kritisches Fazit ist kaum vorstellbar.

Dennoch gehören die literarischen Notate, die einen Grossteil seiner «Lebensknoten» ausmachen, zum Scharfsinnigsten und Erhellendsten, was sich über das Handwerk des Schreibens und die Kunst des Lesens sagen lässt: Die diesbezüglichen Aufzeichnungen – meist als prägnante Mikroessays ausgearbeitet – können Hunderte von Seiten an Fachliteratur ersetzen und brillieren mit staunenswerter Selbstsicherheit und eigensinniger Intelligenz. Auffallend ist unter anderm, wie Gracq die Schattenseiten seiner Lieblingsautoren (unter ihnen Stendhal, Flaubert, Nerval, Proust, Fournier, Valéry und nicht zuletzt – Goethe) ausleuchtet und ihnen damit eine zusätzliche, noch nicht erschlossene Dimension verleiht: Ein ingeniöses kritisches Verfahren, bei dem Lob und Tadel einander wechselseitig bedingen und das jeweilige Werk um so plastischer hervortreten lassen.


«Es ist für einen Schriftsteller heute ein Glücksfall, nie in Mode gewesen zu sein, sondern in einer Zone des Rückzugs und des Halbschattens verweilt zu haben», hält Gracq an einer markanten Stelle fest: «Das verzehrende Licht zeitgenössischer Aktualität teilt mit Röntgenstrahlen die Eigenschaft, dass es weniger etwas aus dem Schatten holt, als vielmehr trotz aller Gegenmassnahmen das Innere vergewaltigt und nach längerer Anwendung sterilisiert und zerfrisst.» Das ist keine Resignation, aber auch kein Trost; es ist jedoch sicherlich ein impliziter Gegenzug zur gängigen Erfolgsbelletristik, gegen den vorherrschenden literarischen «Geschmack» und unbedarfte literarische «Meinungen».
          Starke Literatur, so unterstreicht Gracq mit Hinweis auf Stendhal, sollte «wie eine ins Leere gerichtete Freundschaftsgeste» sein – ins Leere zwar, aber gerichtet: Nur so könne sich (immer erst hinterher) ihr Sinn erfüllen, dadurch, dass die Geste irgendwo, irgendwann, von irgendwem erkannt und (wiederum ins Leere) erwidert wird. Will heissen: Das Wort der Literatur ist, nicht anders als die Flaschenpost, an Unbekannt adressiert, und es hat Geltung allein für den unbekannten Finder, an den es gerichtet ist. Man mag dieses Konzept literarischer Kommunikation für elitär halten, Julien Gracq sieht darin die einzige Möglichkeit, unabhängig von bestehenden Trends und Publikumserwartungen «Originalität» zu erreichen, wenn auch, wie er hinzufügt, um den leidvollen Preis der «Isolation».


Gerade wer die Gracq’schen «Lebensknoten» in ihrer Einzigartigkeit als kontrovers anregende Lektüre zu schätzen weiss, wird enttäuscht sein von der fahrigen Präsentation der Texte, gibt doch die Herausgeberin in ihrem munter formulierten Vorwort keinerlei Hinweise auf den Status, die Anordnung oder die Entstehungszeit der Originalvorlage. Da es sich um Auszüge aus einem vermutlich viel grösseren Werkkomplex handelt, hätte man darüber gern Genaueres erfahren. Den vom Autor nicht vorbestimmten (und auch nicht wirklich passenden) Buchtitel hat die Herausgeberin ebenso wie die Zwischentitel willkürlich eingesetzt, offenbar ohne zu bemerken, dass es zwischen den von ihr erstellten vier Sektionen manch thematische Überschneidungen beziehungsweise Verschiebungen gibt, welche diese allzu grobe Gliederung obsolet erscheinen lassen. Ob Gracq eine solche ursprünglich überhaupt angestrebt hat, bleibt ungeklärt. – Dem deutschen Verlag sind die herausgeberischen Versäumnisse nicht anzulasten; er entschädigt die hiesige Leserschaft mit einer philologisch korrekten Übersetzung, die trotz immenser sprachlicher Komplexität durchweg gut lesbar bleibt – eine bemerkenswerte Leistung von Gernot Krämer.


¹  Julien Gracq: La Maison (Das Haus). Frz. Paris (Éditions Corti) 2023. 84 Seiten (mit Faksimiles des Originaltexts in zwei Fassungen) 15,00 Euro.
² Julien Gracq: Nœuds de vie. Paris (Éditions Corti) 2021. 176 Seiten. 18,00 Euro.
Julien Gracq: Lebensknoten. Aus dem Französischen von Gernot Krämer. Herausgegeben von Bernhild Boie. Berlin (Friedenauer Presse) 2023. 174 Seiten. 20,00 Euro.


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