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Juliane Karwath: Die Abenteuer des Müllers Crispin

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Bernd Lüttgerding

Juliane Karwath: Die Abenteuer des Müllers Crispin. Mit einem Essay herausgegeben von Martin A. Völker, Coesfeld (Elsinor Verlag), 2021. 160 Seiten. 16,00 Euro. ISBN: 978-3-942788-58-8

Das Leben im Scheinbaren.


Wenn ein Buch nicht viel Aufmerksamkeit bekommen hat und vergessen wird, dann, sagt vielleicht ein Fürsprecher des Marktes, taugt es wohl auch nichts.
       Natürlich läuft sogleich auch ein Enthusiast herbei und ruft: Was ist mit Hölderlin? Herman Melville? Emily Dickinson? Oder sogar noch meinetwegen Gerd Ledig (um mich hier zu keiner Liste zu versteigen)? Das Wiederentdecken aus dem Drängen ihrer Zeit herausgereifter Werke ist wichtiger Aspekt einer jeden Literatur; die Entdecker solcher Werke brauchen Geschmack (Gespür für das, was ihre Gegenwart umtreibt) und Ausdauer (denn sie müssen in den Untiefen von Bibliotheken und Antiquariaten herumtauchen, und jeder ihrer Schwimmzüge ist ein gelesenes Buch).
    Martin A. Völker, der Herausgeber des vorliegenden Romans, Literaturforscher und -archäologe, Essayist und Dichter, fordert in seinem Nachwort eine Literaturforschung, die zu einem gesellschaftlich relevanten Impulskenner und Pulstreiber werden könnte. Er ist so ein Entdecker, inzwischen bekannt für die Wiederveröffentlichung und Neuerschließung in den Hintergrund gerückter oder gänzlich vergessener Autorinnen und Autoren vom Barock bis in die Frühmoderne. Neben Fontane, Lessing und Raabe hat er Luise Brachmann, Else Feldmann, die faszinierende Katarina Botsky und viele andere für uns Heutige neu erschlossen. Mir unvergessen ist sein Essay Zur Vorgeschichte des Übermenschen: Literarischer Paracelsismus bei Woldemar Nürnberger (1817–1869), 2014 im Sammelband Nietzsches Perspektiven erschienen¹, durch den ich erstmals auf Völkers Arbeit aufmerksam geworden bin. – Unvergessen, denn Völkers Betrachtungen fußen auf enormer Belesenheit, er spannt große Bögen und bereitet seinen Lesern wohltuende Aha-Erlebnisse.

Von Juliane Karwath aber hatte ich noch nie gehört, habe nie Bücher von ihr in Antiquariaten gesehen, geschweige denn etwas von ihr gelesen. Entsprechend dachte ich "Naaa?", als der zweite Satz des Müllers Crispin mit einem fehlenden Personalpronomen begann und darin an Hanns Heinz Ewers' in gewollter Bemühtheit um Modernität ziemlich doofen Stil erinnerte, "wie nötig wird mir wohl am Ende die Wiederveröffentlichung dieses Buches vorkommen?"

Doch nach ein paar Seiten merkt man, dass die gelegentlichen Verstümmelungen gut zu den Figuren passen, zu ihrem ländlichen Leben und zu der ganzen, sich durch den Nebel unsicherer Wahrnehmung tastenden Geschichte, die sich schnell zu einer atemlosen und beklemmenden Spannung hoch-schaukelt. Crispin, der junge Müllerlehrling auf Wanderschaft erlebt in (scheinbar übersinnlichen?) Abenteuern einen Bil-dungsroman der Konflikte zwischen Natur und Kultur, in denen friedlicher Lärm der Vögel dem peinigenden Lärm der Glocken gegenübersteht. Während aber Mephistopheles in Letzterem noch eine Evidenz sah (Jedem edlen Ohr/ Kommt das Geklingel widrig vor), sehnt sich der Müller Crispin immer entweder nach den wilden Bergen, oder nach der glockenüberschallten Menschensiedlung. Seine Erlebnisse sind märchennah, ohne je niedlich zu wirken, Traumerzählung, die aber nie gänzlich den Boden unter ihren Füßen verliert. Wenn wir lesen, wie die Flamme schlug und leckte zu ihnen herunter und brauste summend übers Dach, und der Dunst schlug in Wolken zu ihnen, Wasser lief und neben ihnen flammte es schon auf, ja, Brausen und Brausen erhob sich um sie und über ihnen, wähnen wir uns fast wie in einem Tarkowski-Film.

Nach schlesischen Sagen war die Originalausgabe von 1922 untertitelt. Hundert Jahre später gewinnt die Neuausgabe an der Weglassung dieses Untertitels. Denn wenn mir die schlesisch-oberlausitzische Sagenwelt auch nichts sagt und ich nicht beim Namen Martin Pumphut wissend nicken kann, lese ich diese Müllerabenteuer doch behext von der unklar und zwiespältig bleibenden Handlung. Alles hat den Anschein, wirkt, scheint, war aber eventuell auch wohl nur eine Täuschung gewesen. Der Werwolf, Spuk und Hexerei... - Alles in unserm Kopfe ist dem Zwang des Augenscheins unterworfen; wir sind nicht für die Wahrheit geschaffen, und die Wahrheit geht uns nichts an, hatte der Abbé Galiani an Louise d’Épinay geschrieben²; auch unter diesem bis heute gültigen Gedanken stutzt der Held und reift an ihm.
      Doch das Wenige was ich hier zur Handlung erzähle, soll bloß neugierig machen und steht zurück hinter Martin A. Völkers instruktivem Nachwort, in dem er bei Kafkas verzweifeltem Sprachvertrauen beginnt, Vaihingers Philosophie des Als-Ob (dass sich die objektiven Erscheinungen so betrachten lassen, als ob sie sich so verhielten; aber nimmermehr besteht ein Recht, hier dogmatisch aufzutreten und das als ob in ein dass zu verwandeln) auf die Erzählung anwendet³ und mit Jaspers, Georg Groddeck und Herder auf Andeutungen über Juliane Karwaths Biographie und literarische Arbeit zusegelt. [Vaihingers] Als-Ob, schreibt Völker, zielt auf Freiheit ab und wertet das individuelle Erleben auf. Es ist das hoch geschätzte Diverse. Alles kann so, aber auch ganz anders sein, was uns keine Angst bereitet, sondern den Reiz des Lebens vervielfacht. Welt und Leben werden wieder zum Geheimnis in einer als geheimnislos erkannten Welt. Dem Als-Ob entkommt man nicht. Überall, wo einer hinkommt, ist es schon vor Ort, weil es mitgebracht wird von dem, der ihm entfliehen will. Das Geheimnisvolle sei nicht aus dem Menschen und aus der Welt zu verbannen, vielmehr sei es die Kehrseite der Aufklärung, die eine Bewusstmachung von allem forderte, um die Menschen zur Selbstkontrolle anzuhalten, um die absolute Berechenbarkeit der Naturkräfte sicherzustellen, um Herrschaft des Menschen über den Menschen und über die Natur zu erlangen. Man fühlt sich gereizt, eine Betrachtung aus Anne Dufourmantelles kleinem Buch Verteidigung des Geheimnisses anzuschließen: Die materia-listische Gesellschaft hat kein anderes Ziel, als uns immer durchlässiger für die von ihr abgesonderten Bilder, für die von ihr fabrizierten und zersetzten Objekte, für jene Substanzen zu machen, die sie für die Produktion eines immer glatteren, aseptischeren, austauschbareren Individuums für unerlässlich hält. Karwaths Buch sträubt sich dagegen.
     Und da ich das Als-Ob aus meinem heutigen Alltag kenne – der Raclettekäse ist ein industriell hergestelltes Als-Ob, und die vollmundige Werbung, die Überzeugungsarbeiten der PR-Agenturen und Beraterfirmen lassen mich in dichtestem Anschein herumstolpern -, kann ich mich bestrickt in Crispins Lebensgefühl spiegeln, allerdings auch in dessen Abenteuerlichkeit.
 
Denn ein Abenteuer muss das Leben bleiben, weil es sonst zu einem Verwaltungsvorgang mit Aktenvermerken, Aktenablage und Wiedervorlagen herunterkommt.


¹ Steffen Dietzsch und Claudia Terne (Hrg.) Nietzsches Perspektiven. Denken und Dichten in der Moderne. De Gruyter, 2014, S. 31 ff. ISBN: 9783110366556
²  Abbé Galiani (Die Briefe des Abbé Galiani, München und Leipzig 1907, Band 2, S. 500, Brief an Louise d’Épinay , Neapel, 13.12.1773)
³  Zitiert nach dem Nachwort, S. 143
⁴  Ebenda S. 144
 Ebenda S. 147
 Ebenda S. 149
 Anne Dufourmantelle, Verteidigung des Geheimnisses, Diaphanes, Zürich 2021, S. 83.
 Karwath (s. o.) S. 160
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