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Júlía Margrét Einarsdóttir: Snorri I & II

Werkstatt/Reihen > Reihen > Wortlaut Island
Foto: Eva Schram
Júlía Margrét Einarsdóttir

Snorri I & II

(Aus: Ljóðbréf Nr. 3 / Poesiebrief Nr. 3, hrsg. v. Dagur Hjartarson und Ragnar Helgi Ólafsson, Tunglið forlag, Reykjavík 2021)

Aus dem Isländischen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer


SNORRI I : FLÜGELSCHLAG

Wir mischen Hustensaft mit Sprite und spielen
Flaschendrehen. Stoßen an, kichern und küssen uns wild,
doch schön.

Die Fenster der Hochhäuser verdunkeln sich nach und nach
und Sterne schicken stille Morsezeichen. Wir aber machen
alle Lichter an. Wir haben Spaß.
Wir gehen auf Socken.

Schneeflocken fallen ins Zimmer und irgendeiner ist dran.
Auf wen der Flaschenhals zeigt, der muss tanzen.
Sich im Kreis drehen. Emma küssen.
Sich die Lippen anmalen. An Gautis Unterhose ziehen.

Es stört die Feierlaune nicht, wenn
die Schallplatte einen Riss bekommt.
Auch nicht, wenn die Vase zerbricht.
Nicht, wenn alles auf den Teppich schwappt.
Nicht, wenn der Nachbar gegen die Tür hämmert.
Nicht, wenn die Flasche unkontrolliert durchs Zimmer schießt.

Nicht, wenn Snorri springt.



SNORRI II: MONDWENDE

Die Gäste sind schwarzgekleidet und niedergeschlagen.
Plaudern halblaut miteinander, lassen
die Kuchenteller und die Möwentassen klappern. Keiner
schaut in Richtung der schuldbewussten Kinder auf dem
grünen Sofa.

Hätte Snorri selbst an der Trauerfeier teilgenommen,
er wäre guter Laune gewesen und hätte Witze erzählt. Er
hätte sich eine Orangenlimo genommen, gerülpst und allen
eine High five gegeben. Er hätte gelbe Socken getragen.

Ich träume manchmal von ihm.

Mit jedem Traum verschwindet er tiefer
im Wald.


Júlía Margrét Einarsdóttir, geb. 1987, ist Schriftstellerin und Kulturjournalistin. Sie hat einen BA-Abschluss in Philosophie und einen MA-Abschluss in Kreativem Schreiben an der Universität Island sowie einen MFA-Abschluss in Drehbuchschreiben der New York Film Academy. Im Verlag Partus Press veröffentlichte sie zahlreiche Kurzgeschichten und eine Mikronovelle und war im Jahr 2015 Hausdichterin des Reykjavík Pride Festivals. Ebenso wie für einen zuvor publizierten Gedichtband erhielt sie sehr viel Zuspruch für ihren 2018 erschienenen ersten Roman, Drottningin á Júpíter / Die Königin von Jupiter. Ihm folgte 2022 ein zweiter Roman, Guð leitar að Salóme / Gott sucht Salome. Bereits 2015 hatte Júlía Margrét Einarsdóttir ein Nýræktarstyrkur frá Miðstöð íslenskra bókmennta, ein Nachwuchsstipendium des Isländischen Literaturzentrums erhalten.
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