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Julia Grinberg; Journal einer Unzugehörigkeit

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Monika Vasik

Julia Grinberg: Journal einer Unzugehörigkeit. Gedichte und Texte. Nettetal (ELIF Verlag) 2025. 140 Seiten. 20,00 Euro.

„Mein Nervenkostüm ist ein löchriger Lumpen“


2019 debütierte Julia Grinberg mit dem Lyrikband kill-your-darlinge im Gutleut Verlag. Nun legt sie ihre zweite Buchveröffentlichung vor, die eine so komplexe wie gelungene Mischung aus kurzen Prosatexten und Gedichten beinhaltet. Die Autorin hat ihre reichen Erfahrungen des Befremdens, des Sich-fremd-Fühlens und des Fremdseins in so ergreifende wie lehrreiche, zugleich bittere und amüsante Literatur verwandelt.

Gegliedert ist ihr Journal einer Unzugehörigkeit in sechs Kapitel, in denen meist aus der Ich-Perspektive Momentaufnahmen und alltägliche Szenen eines turbulenten In-der-Welt-Seins nachgezeichnet werden. Dabei greift die Schriftstellerin in der Art und Weise, wie sie Ereignisse, Erinnerungen, Gedanken und Gefühle einfließen lässt, die sich tief in sie eingeschrieben haben, die Tradition des mündlichen Erzählens auf. Und sie hinterfragt den Sinn und die Ziele ihres Lebens, das sie von der UdSSR über die DDR und die Ukraine schließlich im Jahr 2000 in die BRD führte.
Als was fühle ich mich?
Als Zwischenbemerkung eines Zustandes.
Eine fortlaufende Zweckentfremdung eines Daseins

An anderer Stelle heißt es: „Ich dachte, ich wäre in Sicher-heit, ich habe viel durchgemacht.“ Es ist der Beginn des Ukrainekriegs. Doch angesichts der Feindseligkeiten deutscher Putin-Verehrer muss sie sich eingestehen, dass ihre vermeintlich „sichere Insel“ nicht sicher ist, sondern „wackelig“. Dieses Motiv taucht noch einmal an anderer Stelle auf, nämlich bei einer Autofahrt, und kann ebenfalls als Symbol für ihr Dasein in der Welt gelesen werden:

Stau stehen, ausharren. Harndrang, Handymanie.
Falsche Spur erwischt. Rechts fahren
die einen an mir vorbei, links fahren die anderen
mir entgegen, meine Bewegung ist ein Wackeln
Grinberg steht heute in der Mitte ihres Lebens, blickt zurück und zieht Bilanz. Es ist eine Inventur, die nichts vortäuscht und die eigene Person nicht schont. Sie bleibt wahrhaftig, wenn sie ihren schweren Rucksack von den Schultern hievt und ihn öffnet, darin gräbt, nach Gründen und Ursachen forscht für das, was sie warum wie geworden ist und wie sie sich heute durch die Tage schlägt. Geradezu beiläufig flechtet sie angesichts vergangener und aktueller Bitternisse vage Vorsätze für die Zukunft ein, denen ihre Zweifel angesichts des Erlebten inhärent sind:

„Ich erwäge, ein optimistisches Szenario für die nächsten Jahre auszumalen.“

Den größeren Teil ihres Journals nehmen kurze, bis zu einer Seite lange Prosatexte ein. Es sind Minutennovellen, ein Begriff, der vom ungarischen Schriftsteller István Örkény (1912-1979) geprägt wurde. Es sind Erzähldestillate, die mit wenigen Sätzen Träume skizzieren, Lebensmomente und Erinnerungen ausmalen und Stimmungen ohne Larmoyanz präzis auf den Punkt bringen, sie manchmal ins Absurde oder ins scheinbar Absurde wenden, oft gewürzt mit Lakonie, einem Schuss Zynismus und mehr als nur einer Prise Melancholie, die den Gedanken an den Tod als Möglichkeit genauso einbezieht wie ihre Angst, sich zu verlieren.

Die Titel von Grinbergs Texten beginnen fast immer mit Kleinbuchstaben, was den Eindruck eines bruchstückhaften, sich langsam entwickelnden Erzählens verstärkt, das dem diskontinuierlichen Fluss des (Nach)Denkens ähnelt und ein Leben allmählich mosaikartig vor unseren Augen entstehen lässt. Diese Titel bestehen meist aus kurzen, manchmal fragmentierten Sätzen ohne Satzzeichen, in denen Wochentage erwähnt werden, wie „am Mittwoch erfand ich ein Absurdometer“, „letzten Freitag freier Fall“ oder „am Dienstag trug ich meine Angst zu Grabe“, was den Eindruck eines Journals bestärkt, entfernt auch einem Tagebuch ähnelt. Doch es weist darüber hinaus, da es keine Datierungen gibt und ein Wochentag ohne Jahresangabe bloß der bewusste Entschluss einer (vorläufigen) Festschreibung ist, für die gleichwohl fast jeder andere Tag eines Jahres möglich wäre. Denn wie es im Titel eines Textes heißt, „es spielt keine Rolle, ob nun Dienstag oder Mittwoch war“.

Inhaltlich reichen die Episoden von der frühen Kindheit bis ins Heute. Sie bezeugen ein Aufwachsen in einem lieblosen Elternhaus, in dem Mahlzeiten als „Liebesrudiment“ dienen und ein „Indiz der Gunst“ sind. Sie erzählen vom Ausgesetztsein, von menschlichen Schwächen, der Sehnsucht nach einer Umarmung und dem erfolglosen Bemühen, der sich entziehenden Mutter alles recht zu machen, um ihr zu gefallen. Sie lernt, das einzig Wichtige im Leben sei zu funktionieren. Sie verdient früh Geld und schlägt ihre Zeit tot mit für sie bedeutungslosen Brotjobs.

„Handelsreisen, das traurige Geschäft, meine Übung in Demut und Selbstverleugnung.“

Grinberg zeigt in ihren Überlegungen ein feines Gespür für Nuancen, macht auf differenzierte Weise die Hilflosigkeit, erfolglose Auflehnung und Orientierungslosigkeit begreifbar. Sie weiß von Sehnsüchten, ihren Ängsten und Panikattacken zu berichten, die sich angesichts des Ukrainekriegs noch verstärken. Und sie erzählt von früher Überforderung, „als ich schon Studentin, Ehefrau, pflegende Tochter einer krebskranken Frau war“. Hart geht sie auch mit sich als Mutter ins Gericht, weil sie denkt, dass sie in dieser Rolle ständig versagend ist. Dazwischen knallen Merksätze, Selbstermahnungen und Gebote, mit denen sie sich zur Härte gegen sich selbst und zum Weitermachen zwingt:

„Tränen stiegen hoch. Bloß nicht! Zurückhalten! Durchhalten.“

Die Ich-Figur erkennt, „ich, wie ein jeder, bin alleine“. Doch Grinberg ist im Besitz ihrer präzisen Sprache, mit der sie sich selbst ermächtigt und ihr Schicksal auf einzigartige Weise in Literatur verwandelt. Schreiben heilt nicht, aber es schafft Abstand und ist eine Form der Bewältigung, des Selbstgesprächs sowie des (Mit)Teilens. Die Schriftstellerin entfaltet kein bloß privates Schicksal, sondern eine für ähnlich reiche, vielfach gebrochene Biografien prototypische Erzählung. Grinberg erschafft mit ihrer Ich-Figur kein papierenes Wesen, sondern einen interessanten Menschen aus Fleisch und Blut, aus Freuden und Leiden, aus Schönheit, Wunden und Not, eine Frau, die zudem über herrlichen Humor verfügt, der sich gelegentlich Richtung Sarkasmus oder Ironie verschiebt.

„So schrieb und schreibe ich mich selbst, gebe mir eine zeitweilige Bescheinigung meiner, hänge an diesem seidenen Faden.“


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