Jürgen Brôcan: Ritzelwellen
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Timo Brandt
Jürgen Brôcan: Ritzelwellen. Gedichte. München (Aphaia Verlag) 2020. 135 Seiten. 17,00 Euro.
Diesseits des Weltgehalts
„nach dem Rostlicht, innerhalb von Minutenerst ultramarin, dann postkartengolden,nach den Singvögeln, die ihren Abendflug beendet haben,hingedüste Linien und zuletzt ein lässiger Looping,als gäb es ein unhörbares pling in der Luft,das sie alle in ihre Nester zurückberuft,bricht die Fledermausdämmerung herein“
Poesie ist die Suche nach Glanz, schrieb der kürzlich verstorbene Dichter Adam Zagajewski in einem seiner Gedichte. Nun ist Glanz ein etwas unverfängliches, glattes Wort und ich will, wenn ich diesen Spruch auf die Poesie Jürgen Brôcans ummünze, lieber von „Widerschein“ sprechen.
In diesem Wort steckt nämlich ein Anflug jener Ambivalenz, die Dichtung, insbesondere die Dichtung Brôcans, ausmacht: Einerseits ist die Welt der Poesie durchaus eine Scheinwelt, ihr Werk eine zusätzliche Oberfläche aus Sprache über den Dingen, deren Maserung erstaunliche Muster auf sie legt, aus ihnen hervorruft. Andererseits kann man es aber auch so sehen, dass die sinnliche Welt ein Schein ist, Widerschein unserer Stimmungen und Gefühle mitunter, und jene zusätzliche Oberfläche der Sprache uns Ausblicke in die Tiefe der Dinge ermöglicht, aus denen ihr ganz eigener Widerschein heraufkommt.
„vielleicht kommt man eines Tages zu dem Schluß,daß die Welt nicht viel mehr ist als eine Zellein den Hirnwindungen des Kosmos,die Quasare und Pulsare Noten in einem Systemmit einer Musik für keine Ohren oder noch unerfundene Ohren“
Anders gesagt:
wir können in der Poesie die Dinge anders betrachten – und sie doch mehr so
sehen wie sie sind. Dies ist vielleicht eine Binsenweisheit – aber etwas in den
Dichtungen Brôcans führt mich immer wieder zu dieser Erkenntnis, dieser
Erfahrung. Es gelingt seinen Gedichten mit unaufdringlicher Beiläufigkeit zu
zeigen, dass Poesie genau das bewerk-stelligen kann: den anderen Blick, der sich
als genauer entpuppt.
Brôcans vorletzter
Gedichtband „Wacholderträume“ (Edition Rugerup, 2018) konnte mit einem
flirrenden Inventar an Natur- und Gemäldebeschreibungen aufwarten. In dem neuen
Band „Ritzelwellen“ werden die fließenden Dynamiken in den Texten des
Vorgängers abgelöst von Bewegungsabläufen, die in der Tat (siehe Titel) eher
etwas Gezeitenhaftes haben: weniger stetig und überschäumend, vielmehr hin und
her, anstauend und brechend, schaukelnd statt vorantreibend.

„alles gehörte mir, alles war Wunder –nicht weil ich es nicht begriff,sondern weil noch soviel Zeit vor mir lagund das Nichts in einer unvorstellbaren Ferne / Zeitist eine Maske derBewegung , Vergessenheit eine Maske derZeit ––– der Tod eine Vollbremsung im All.“
Die Geste der
Gedichte ließe sich, in Verbindung mit dem, was ich zuvor gesagt habe, wohl als
weit ausladende Handbewegung beschreiben, in der aber immer wieder unverhofft
ein schmaler Fingerzeig angebracht wird. Jedes Gedicht also ein bisschen wie
ein Ozean, auf dem einige kleine Schiffe mit höchst bedeutsamer Fracht
unterwegs sind.
Thematisch knüpft
das neue Werk an den Vorgänger an, und es gibt wieder viel Natur, viele Bezüge
zur bildenden Kunst, zu Literaten und *innen und ihren Briefwechseln, und sogar
antike Autoren wie Ovid oder Plinius stehen bei Gedichten Pate, Walt Whitman
ist ein weiterer mehrfach vorkommender Name. Entsprechend groß ist das
Anmerkungsverzeichnis des Bandes, in dem die Bezüge angeführt und teilweise
auch kurz erläutert werden.
„das Freudenprickeln spürt, Fleisch.ein Gefäß fürs Reizhirn“
Das Schöne an
Brôcans Dichtung, neben allem, was ich bereits angebracht habe, ist, dass ihre
vielen Anleihen bei Kunst, Literatur, Philosophie und Naturwissenschaft sie nie
vom Leben wegführen. Ganz im Gegenteil. Sie sind vielmehr eine Zwischenwelt,
die eben gerade wieder ins Leben weist (und sei es auf dem Umweg der
Erinnerung).
Anders gesagt:
Die Versenkung in Brôcans Gedichte führt nicht an ferne Orte, in
Vorstellungsräume oder dergleichen, sondern ermöglicht es, auf die Welt
zuzugehen, ihre Phänomene wieder wahrzunehmen. Es findet darin eine Verzauberung
der Welt statt, die aber nicht die Gegenstände transzendiert, sondern eine
Plastizität, eine Anwesenheit in sie fahren lässt.
Ein Beispiel wäre
diese Beschreibung des Schnees, der über einer antiken Festung zu fallen
beginnt:
„so begann es:Weiße Körner taumelten einzeln aus wolkigem Nichts,verhauchten zu Flecken am Boden. die Aschfahleerstreckte sich bald über die gesamte Himmelsbreite,ein Licht ohne Leuchten, ohne Richtung, allgegenwärtig.auf Turm und Wehrgang und Hügeln lagerte einehelle Schicht, hüllte die Felszacken in eine sanfte Gestalt.“
Oder
Beschreibungen wie diese:
„eine Herde knorriger Bäume durstig am Ufer“
Oder ein Satz zur
Schule:
„Absitzen von Stunden in den Legebatterien der Langeweile“
Mit all diesen
Ausführungen habe ich natürlich nur an der Oberfläche kratzen können, denn
mancher Vers von Brôcan zweigt trotz seines Weltgehalts auch in weit philosophischere
Überlegungswelten ab, in denen es zum Beispiel um die Frage geht, was die Dinge
ohne die Bedeutung sind, die wir ihnen verleihen, und in denen Brôcan Sätze
anbringt wie etwa:
„Irgendwann sind wir nur noch Dinge,die wir zurücklassen,Spuren, die sich selbst legen.“
Oder:
„Nichts ist banal, wenn es zusammenlebt“
So möchte ich am
Ende alle Leser*innen einladen, sich von den Ritzelwellen des Bandes hier- oder
dorthin tragen zu lassen. Eins kann ich in jedem Fall garantierten: kleine und
größere Erkenntnisse in vielerlei Belangen.
„viel Zeit ging über die Gräber,verging in den Herzen wohl nicht.“