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Jürgen Brôcan: Ostwärts, zu den Blutsteinen

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Jürgen Brôcan

Ostwärts, zu den Blutsteinen
Werner Weimar-Mazur und die Träume der Wirklichkeit


Gleich das erste Gedicht des Bands »stil und schmiermittel«, den Werner Weimar-Mazur vor seinem Tod nicht mehr veröffentlichen konnte, zieht einem den sicheren Boden unter den Füßen davon. Die Motive sind in dichter Folge miteinander verschränkt, sie werden so schnell einer Metamorphose unterzogen, daß man nur noch blinzeln kann und sich im Laufe der Lektüre vermehrt fragt, wer hier denn eigentlich träumt – der Schreibende oder der Lesende? Von einem literarischen Zitat geht es unvermittelt zum Anschein eines Wandbilds der in Asche versunkenen Stadt Pompeji, doch das Liebespaar darauf scheint ganz hiesig zu sein, überspringt mühelos die Zeiten, verliert sich in den Weiten eines Parks, einer Landschaft, eines Niemandslands, wo man »zittergras in den adern« hat.

Wer also träumt denn hier? Vielleicht ist die Beantwortung dieser Frage gar nicht entscheidend, wichtig ist nur, daß sich diese Gedichte an der uralten Quelle der Imagination getränkt haben. Denn was anfangs noch mit der Nüchternheit von Reiseberichten daher-kommt, stellt sich immer stärker als ein seltsames Elixier aus Märchenduft und Klarsicht heraus. Die Gedichte dieses Bands sind Protokolle eines Wachträumens. Sie blicken zumeist nach Vorderasien, doch spätestens bei der Zeile »ich erwachte in einem schlaf« beginnt man zu stutzen, weil der Sog (vielleicht unbeabsichtigt) bis in den fernen Osten reicht, zu dem berühmten Schmetterlingstraum des chinesischen Philosophen, der nach dem Aufwachen nicht wußte, »war er Zhuang Zhou, der geträumt hatte, ein Schmetterling zu sein, oder war er ein Schmetterling, der geträumt hatte, Zhuang Zhou zu sein« (Ü.: Viktor Kalinke). Das besagt im Hinblick auf die vorliegenden Gedichte: Sind es ›echte‹ dichterische Erinnerungen oder dichterische Visionen, Klarträume bei wachem Verstand?

Die dichterische Imagination wurzelt auf jeden Fall im Boden, in den Realien des Lebens, in den Tiefenschichten von Stein und Gehirn gleichermaßen:

der tunnel unter dem leben ist
ein labyrinth
ein weit verzweigtes system aus rhizomen
datenautobahnen
sie verbinden die städte und dörfer
in magischer geometrie

Aber die Imagination streckt sich auch weiter hinaus und hinauf, sie fliegt und flügelt über die Landschaften und durch die Zeiten. Das »gedicht mit scham und hämatit« gleich zu Beginn des Bands breitet alle Ingredienzen des Elixiers vor uns aus: Innen und Außen, Zimmer und Welt sind füreinander durchlässig, Vergänglichkeit und Ekstase verbinden sich zu einem Amalgam, das sich emotional kaum noch einordnen läßt – werden da Hymnen gesungen oder Trauerlieder? Das Gedicht als Eintritt in eine andere, fremde Welt, und sei es auch nur im Traum, in der Vorstellung, als Augenblicksblüte der Poesie. Plötzlich steht der Ararat vor einem, dann Armenien, dann eine schlafende Frau namens Tatev, immer näher zoomt der Träumende heran, erst ganz unpersönlich, dann als ein Ich verkörpert, einschlafend bei – neben? – der Schlafenden, die im Wachzustand vielleicht die in Polen lebende armenische Dichterin Tatev Chakhian sein könnte.

Man muß das, man soll das alles nicht so genau wissen, trotz des sehr direkten Stils, der für Weimar-Mazurs Gedichte typisch ist, man muß nur erkennen: man hat »eine reise in die antike und das heute gebucht«. Das ganze Buch befindet sich in der Traumzeit des Gedichts, für das Raum und Zeit zu durchqueren wesentlich ist. Sie findet hier, jetzt, akut und heftig statt, umfängt aber auch immer wieder das Vergangene und Zukünftige. Es erstaunt nicht, daß der studierte Geologe Weimar-Mazur ein anderes, größer dimensioniertes Verhältnis zum Ablauf der Zeit hat und das Vergehen der Dinge umso mehr in seinen Fokus gerät. Doch nicht in Stein wird gemeißelt zur Erhaltung und Erinnerung, sondern in Sprache gemodelt:

ich zähle die fugen die jahre
die stöße zwischen den betonplatten
autobahnen haben eine andere geometrie

Aber welche andere Geometrie? Geben die kurz darauf folgenden Zeilen darüber Aufschluß? Ist es eine Geometrie, die aus Stimmen und Sprache besteht?

aus dem off
fallen mich stimmen und fahrgeräusche an
sie sind die wagenlenker
der geschicke die sich fügen fuge für fuge
die zeit zwischen anfahrt und ankunft
berechnet sich
aus den erlaubten höchstgeschwindigkeiten

Die in diesem Kontext unerwartet altertümliche Vokabel »Wagenlenker« ist schließlich das Signal, daß in den Gedichten tatsächlich ein ständiges ›‹Kommen & Gehen‹ vorherrscht, vor und zurück in die Imagination, in den Traum, in die Zeit, Wanderungen in »slow motion« oder mit »überschallknall« – und irgendwann wird einem auch das geheime Ziel verraten, es sind »die brutgebiete der poesie«. Und in diesen geschehen die verblüffendsten, beinahe syn-ästhetischen Phänomene, denn hier – wie auch in allen anderen Gedichtbänden Weimar-Mazurs – treffen die unbelebten Dinge der Natur und ein ebenso intellektuelles wie körper-liches Verlangen in elektrisierend köstlichen Reibungsflächen aufeinander. Dabei können alle Hemmnisse und Hemmungen fallen:

ich fasse an das geschlecht der nacht
ihre vulva liegt offen
zwischen dem gürtel des orion
und der kandierten mondsichel

Am Ende steht ein dichterisches Statement: »ich schreibe gegen die trauer«. Und das bedeutet: Gegen den Krieg und für die dauernde Entwicklung, die beide omnipräsent sind. Das Gedicht als Antidot, als Mittel gegen das Vergessen, die Gleichgültigkeit, das Erkalten, als Mittel für die Bewahrung, die Erinnerung, die Freude am Sinnlichen und an der Phantasie. Weimar-Mazur hält die dafür notwendigen Ingredienzen in einer so klugen wie poetisch fruchtbaren Balance. Immer befinden sich die Gedichte formal auf der Höhe der Gegenwart, neigen sich aber nur sanft zum kühnen Experiment, sie erlauben sich eher die Träumerei, den märchenhaften Duft, der kurz die Bilder umschmeichelt.

ein einfacher sextant ein bleistift und ein lineal
hätten genügt für gesänge
trauerklagen
und den chor
der erinnyen

Dann landen sie jedoch sofort wieder durch exakte Terminologie und genaue Benennungen zurück auf dem festen Boden der Tatsachen, der einem im ersten Moment unter den Füßen weggezogen wurde. Diese Gedichte sind kontrollierte Höhenflüge, denn Wissenschaft und Poesie ergänzen sich auf nachvollziehbare – und das bedeutet am Ende doch: wundersame – Weise.


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