Jürgen Brôcan: Holzäpfel
Jan Kuhlbrodt
Was draußen ist
Jürgen Brôcans neuer Gedichtband Holzäpfel
Wahrscheinlich ist es unsinnig, die Geschichte am Zeitstrahl auszurichten, zumal eine Geschichte der Ästhetik, der Kunst und des Schönen. Mag sein, dass es möglich ist, eine sinnfällige Abfolge der Wahrnehmung zu konstruieren, doch läge sie an jeder Stelle quer zum Gewirr des empirischen Materials.
Jene Bewegung, die ich an anderer Stelle Neobiedermeier genannt habe, versucht das Gewirr des Materials zu domestizieren, in dem es ihm beherrschbare Räume zuweist, Gärten, Räume, die frei sind von Spuren urbaner Zivilisation, frei von Brandmauern, frei von Betonresten und Einschlüssen menschlicher Materialforschung. Die auf diese Weise erzeugte Natur ist natürlich nichts als eine Blase und als solche aufs höchste künstlich.
Jürgen Brôcan rollt in seinem neuen Gedichtband das natürliche Feld von einer anderen Seite auf. Man kann vielleicht sagen von der Seite eines Wanderers, um sich der Gefahr auszusetzen, mit diesem eher altbiedermeierlichen Topos auf eine falsche Spur zu geraten. Aber: Wenn der Wanderer Eichendorff neben den frischverlegten Bahngleisen einherging, und dabei die schnaubenden Züge und die Gleise selbst ignorierte, balanciert Brôcan auf den – nach 150 Jahren industrieller Entwicklung zum Teil bereits wieder stillgelegten – Schienen der Gleisanlagen. Was hier aufscheint ist zum einen Überrest, zum anderen auch Speicher.
Später ein kleiner Fluß, Perlen
früher hier zu finden
Bauholz aus Amerika färbte die Stoffe
Brôcan kommt ohne Gatter aus und in der Natur trifft er auf Geschichte in Ablagerungen. Und zwar nicht nur auf die üblichen Eckdaten, sondern auf Geschichtsmomente in ihrer schillernden Vielfalt. Geschichte als farbiger Einschluss.
Und dieser Hinweis in den natürlichen Dingen auf vergangene menschliche Anwesenheit räumt gewissermaßen auch den Blick für Natur frei. Es ist die alte dialektische Erkenntnis, die hier sich erneut Raum sucht, dass der Gegenstand durch das ihm Fremde zwar scheinbar verstellt, doch indirekt auch beleuchtet wird. Und nur in diesem indirekten Licht können wir ihn erkennen.
Der Band hat eine fast symmetrische Struktur, sie ist, wie alles, durch ein Kapitel leicht verschoben – dezentriert, wenn man so will – das Die großen Ferien heißt. In diesem Kapitel findet sich auch das oben angeführte Zitat. Ferien mag das Kapitel heißen, weil es, in dem Bewusstsein, dass es im Grunde keine gibt, nach Auswegen sucht. Das zitierte Gedicht endet mit folgenden Versen:
Glücksmoment ist einer
in dem man die Menschen vergisst.
Aber man sollte sich von dem misanthropischen Anklang dieser Stelle nicht täuschen lassen, ist solche Misanthropie doch meist ein Zeichen ihres Gegenteils. Urlaub vom Eigentlichen.
Im Zentrum des Bandes, oder beinahe im Zentrum, da ja die großen Feien die Mitte leicht verschieben, findet sich das Kapitel Poetiken. In elf poetologischen Texten, von denen fünf den Titel Poetik tragen, entwickelt Brôcan seine Zugangs- und Wahrnehmungsweise und seine Vorstellung von Kunst als quasi natürlichem Verhältnis und zur Natur als künstlichem, von der gegenseitigen Anwesenheit.
Als Aufgabe formuliert:
Die Wege sichtbar machen des
Vogels, Baums, Blitzes ins Auge ganz
einfach, weiter nichts, die Fäden
zwischen, und was man in
der Umgebung findet.
Und natürlich verbirgt Brôcan seine Arbeit als Übersetzer und sein Dasein als Leser nicht. Wir stoßen in den Texten auf viele Kollegen – von Muir, über Jeffers zu Marianne Moore, um nur drei zu nennen.
Jürgen Brôcan: Holzäpfel. Gedichte. Berlin (Edition Rugerup) 2015. 159 Seiten. 19,90 Euro.