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Jürgen Brôcan: Gottesdeponie (2)

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Monika Vasik

Jürgen Brôcan: Gottesdeponie. Eine Passacaglia. München (Aphaia Verlag) 2023. ISBN 978-3-946574-32-3. 72 Seiten. 110 Seiten. 18,00 Euro.

„obwohl ich die endlichkeit verweigere“


Gottesdeponie lautet der Titel des achten Lyrikbands von Jürgen Brôcan, ein Buch, das ich, so viel sei vorneweg gesagt, für seine bislang ambitionierteste und gelungenste Schöpfung halte. Es sind Gedichte, die wieder und wieder gelesen werden wollen, dennoch nicht restlos zu entschlüsseln sind. Jede Relektüre wurde mir zur Offenbarung. Ich blieb an Worten und Versen hängen und entdeckte neue innere Verbindungen und Motivketten, die meine Lesart bereicherten, sie gelegentlich in Frage stellten oder verwarfen, Bezüge reifen ließen.
       Doch was ist eine Gottesdeponie? Sie kann jener Ort sein, an dem Atheisten Götter entsorgen, weil sie Gott als „webfehler“ betrachten, höhnisch fragen, „wer schuf denn wen nach wessen bild?“, oder das Beten belächeln und damit jene Menschen, die „seit hunderttausend jahren mit dem schw- / irren rauschen von geistern und göttern gespräche“ führen. Oder man betrachtet die Gottesdeponie als einen riesigen Komposthaufen, auf dem alle je existiert habenden, existierenden und existieren werdenden Lebewesen letztendlich landen (werden), um zu verfaulen und zu vermodern. Was bleibt von ihnen, was von Äußerungen ihres Lebens, was von ihren Lieben, ihren Feindschaften und ihren Werken? Etwa ein erfahrungssatter Humus, mit dem die Leben nachfolgender Generationen gedüngt werden und umso prächtiger gedeihen? Oder ist es nicht vielmehr so, dass die Lebenswelten der Altvorderen über die Jahrzehnte und Jahrhunderte nicht vermittelbar, ja geradezu belanglos sind, oder in Vergessenheit geraten, weil sie für die Nachfahren nicht mehr entschlüsselt werden können? Die Frage „warum wir hier sind“ und jene nach dem Ziel des Daseins in der Welt, nach Sinn-, Sinnfindung und Sinnstiftung des eigenen Lebens ist eine, die sich Menschen seit Jahrtausenden stellen und die ihren Niederschlag u.a. in den Künsten gefunden hat, in der Hinwendung zu Religionen und in Erkenntnissen der Philosophie. Und diese Fragen ziehen sich als roter Faden durch den Lyrikband, dessen Gattungsbezeichnung nicht „Gedichte“ ist, sondern „Eine Passacaglia“.
      Passacaglia ist ein Begriff der Musikwelt. Die Passacaglia ist spanisch-italienischen Ursprungs, entstand (wie im übrigen auch die Taktarten) in der Zeit des Barock und bezeichnet ein Instrumentalwerk in ungeradem Takt, also einem Dreiertakt. Sie behandelt ein sich wiederholendes Thema in Variationen und ist oft in Molltonarten notiert (siehe Reinhard Amon: Lexikon der musikalischen Form, Doblinger Musikverlag, Wien 2011). Die Bezeichnung Passacaglia wiederum leitet sich vom spanischen „pasar una calle“ ab, was „über/durch eine Straße gehen“ bedeutet. Auf die vorliegenden Gedichte und den schon angesprochenen roten Faden bezogen könnte man vom „durch ein Leben und durch die Historie gehen“ sprechen, als Verb wäre „wandeln“, gelegentlich auch „tänzeln“ passender, weil dies der Leichtigkeit entspräche und dem leisen Witz trotz der vermeintlichen Schwere des Themas, bei dem es um Anfang und Ende, um alles oder nichts geht. Dieses im Mittelpunkt stehende „alles“ wird hier mit zwei Nomina benannt: das Wort und die Liebe, die in eins fallen in einem „du“, sich bedingen und für das „ich“ in seiner Ich-Werdung und seiner Ich-Vervollkommnung nicht unabhängig voneinander existieren. Dieses „du“ eines menschlichen Gegenübers wird am Anfang des Bands angeführt, denn er ist gewidmet: „Für K.“ - und es wird möglicherweise nicht falsch sein, in ihr Kerstin zu sehen, jene Frau, die Brôcan in seinem Gedicht „Im Fall des Abschieds“ (in: Holzäpfel, Edition Rugerup, Berlin 2015) adressiert hat.
        Formal greift Jürgen Brôcan den Dreiertakt der Passacaglia auf, indem er die 3 vervielfacht zur Zahl 9 und in seinem Band 99 Gedichte zu je 9 Versen mit je 9 Wörtern vorlegt. Alle Texte sind ohne Titel und man kann sie analog zu einem Musikstück durchaus als ein Langgedicht mit melancholischem Grundton lesen. Und wie in einer Passacaglia führt Brôcan das Thema im ersten Gedicht ein, das mit den Worten beginnt: „Ohne dich stimmlos“, und er spannt einen Bogen zur biblischen Schöpfungsgeschichte, die er sich umschreibt, wenn es heißt:

„nach allen namen bekam adam ein neues alphabet präsentiert,
eines, das er bis heute entziffert“

Nicht die aus seiner Rippe Erschaffene namens Eva ist es, die Adam von Gott fix und fertig präsentiert wird, sondern sie ist die Andere, von ihm Verschiedene, „ein neues alphabet“. Der Mensch wie auch der Dichter also als ein ewiger Adam mit seinem „rohstoff vernunft“, dessen Weg anstrengend ist und „lauter anfänge“ bedeutet, zunächst schlicht zum Beispiel dem Auftrag zu folgen, etwas aus den ihm zugefallenen Buchstaben zu machen.

„lerne ein paar buchstaben des alphabets
das jeder von uns ist. dies ist kein papier,
es ist ein zweiter körper“

Das Thema wird wie in der Passacaglia immer wieder aufgegriffen und variiert, wenn es zum Beispiel in einem der letzten Gedichte in Anlehnung an Martin Buber heißt: „ich-werden durch du-sprechen“, nämlich hin zur Gewissheit der eigenen Existenz, die sich durch Worte bildet, selbstbezüglich, in einer komplexen Beziehung zum

„du, das angeredete ich, du das angerufene du ... weil atem auf erwiderungen hofft.“

Um dann zu einer Art allmächtigem Gott werden zu können, der sich selbst den Auftrag gibt:

„wörtere dir einen zweiten körper, wenn der
eine desolat, mache ihn leben, lebendig, sei ihm eklipsen,
silbenfälle wie unter kometendusche

Im Nachwort zu seinem Lyrikband Ritzelwellen schreibt der Dichter, dass für ihn das Gedicht „beweglich und verständlich bleiben“ solle, unabhängig vom Wissen um Bezüge, die es gefärbt und bereichert haben. Als Hinweise zu diesen „Tiefenschichten“ seiner Texte hat er auch im aktuellen Band wieder mit geradezu wissenschaftlicher Akribie eine Fülle an Anmerkungen und Hinweisen zu unterschiedlichen Einflussquellen angefügt, u.a. aus der Literatur, aus Film, Philosophie und Geschichte, denn nicht nur Dichter*innen leben, wie Brôcan, Proust zitierend, in seinem Lyrikband Holzäpfel schreibt, „in einer Art brüderlicher Gesellschaft mit allen großen Geistern aller Zeiten“. Die Nachverfolgung und genauere Kenntnis dieser Quellen könnte den Horizont erweitern, ist aber für die Lektüre der Gedichte nicht Voraussetzung. Auch meint man nicht extra ausgewiesene Anklänge (Celan, Handke, ...) zu vernehmen, was bei einem belesenen Dichter und Poesienetzwerker nicht weiter verwundert. Neben der melancholischen Grund-stimmung tauchen zudem wieder zentrale Motive aus Brôcans früheren Bände auf, u.a. Baum, Apfel, Atem, Wasser und Licht.
       Über all der Sinnsuche jedoch steht der Fluch oder die Gnade der Endlichkeit des Lebens. „welt genug und keine zeit mehr“, lesen wir einmal, an anderer Stelle:

„geburt und tod, ein nichts dazwischen,
mit den stummeln von einigen silben sich hinübertasten in
die wissenheit“
„was ist der preis“ der Suche nach Wissenheit? Und was bleibt davon übrig? „am ende kneten wir uns zu biomüll“, meint Brôcan lakonisch. Aber was geschieht dann mit all den Worten, die den Körper von „ich“ und „du“ konstituierten und selbst Körper sind? Der Dichter ist sich gewiss, „in büchern steht der beste teil von mir, im metaphern-gebrösel“. Dennoch hegt er, so scheint es, wenig Hoffnung auf ein längeres Überleben jener Worte, die für ihn Bedeutung hatten – wobei die Tatsache, dass er historische Quellen zitiert, nahelegt, dass Wortkörper, losgelöst von menschlichen Körpern, weiter existieren können, wie lang ist wiederum eine andere Frage, ein Existieren jedenfalls, ohne dass letztere noch am Leben sind und Einfluss nehmen könnten. Es bleibt eine Frage des Verständnisses und der Auslegung. In vorschriftlicher Zeit äußerten sich Menschen zum Beispiel durch Höhlenmalereien, etwa in der nahe Marseille gelegenen „Grotte Cosquer“, doch
„man wird ihre zeichen nie verstehn,
die frauen und kinder und männer, die hier malten,
seit dreißigtausend wintern sprechen sie und keiner kanns deuten“
Aber, so die Hoffnung des Dichters, bis es soweit ist und dreißigtausend Jahre vergehen, bleibt man „gerettet in worten“ und es wird „im gespräch der endlichkeit entbunden der atem, dein wort.“


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