Jürgen Brôcan: Augenblicke der Anwesenheit
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Monika Vasik
Jürgen Brôcan: Augenblicke der Anwesenheit. Essayistische
Überlegungen zur Lyrik. München (Aphaia Verlag) 2025. 251 Seiten. 25,00 Euro.
„Dichtung als ein nie endendes, ewig fortzusetzendes,
unendlich verzweigtes Mycelium“
2025 wird Jürgen Brôcan 60 Jahre alt und legt zum runden
Geburtstag gleich drei neue Bücher vor: Da ist zum einen der Band Das einzigartig wilde Vergnügen, allein in
den Wäldern zu sein (PalmArtPress) als Ergänzung zu Brôcans 2009
veröffentlichter Übersetzung von Walt Whitmans Grasblätter[n] (Carl Hanser). Das Buch enthält Fragmente aus dem
handschriftlichen Nachlass des amerikanischen Autors, die Brôcan gemeinsam mit
Roberta Harms ausgewählt und ins Deutsche übertragen hat. Da ist zum anderen
sein mittlerweile neunter Gedichtband Flacons
/ Irritationen / Umwege (Aphaia) der „neun lange, neun mittelgroße und neun
kurze Gedichte“ enthält, die sich laut Ankündigungstext zur Freude hinwenden,
aller Melancholie, „allen Dunkelheiten, Irritationen und Verirrungen zum
Trotz“. Und da ist zum Dritten der reichhaltige Essayband Augenblicke der Anwesenheit mit Brôcans „Überlegungen zur Lyrik“.
Der Autor ist sich der Größe dieses Vorhabens bewusst und weiß, dass er
angesichts der Fülle der in der Welt vorhandenen Gedichte hier nur „wenige
subjektiv ausgewählte Beispiele aus dem eigenen Leseerleben“ erwähnen kann,
„nicht mehr, aber auch nicht weniger.“ Denn:
„Über Lyrik zu schreiben, sie zu beschreiben, ist eine Ewigkeitsaufgabe.“
Man könnte nun einen Exkurs über die vielfältige Bedeutung der Zahl drei und ihrer Quadratzahl neun in der Mathematik, in Natur, Mythologie und Religion oder in der Kunst an den Anfang stellen. Man könnte mit literaturwissenschaftlichem Ansatz auch die Bedeutung der Zahl neun für Jürgen Brôcan und seine Gedichtsammlungen ergründen, gewiss interessante Vorhaben, allein, sie würden den Rahmen einer Buchbesprechung sprengen. Ich möchte zumindest darauf hinweisen, dass schon in Vorgängerbänden des Dichters die Zahl neun auftauchte, etwa im Buch Gottesdeponie. Eine Passacaglia (Aphaia 2023), in das Brôcan 99 Gedichte zu je neun Versen mit je neun Wörtern aufnahm. Die Zahl neun finden wir auch in diesem Essayband wieder, denn er ist in neun Kapitel gegliedert, wobei das dritte zweigeteilt ist, vielleicht um den Zauber der Zahl neun beizubehalten. Auch im Epilog sind es neun Gedanken, vom Autor „Einfallsfetzen“ genannt, mit denen er das Buch abschließt.

Der Essayband spiegelt die Lese- und damit auch einen Teil der persönlichen Biografie des vielfältig beschäftigten und für die Form des Gedichts brennenden Lyrikers, Übersetzers, Germanisten, Literaturkritikers und Herausgebers Jürgen Brôcan wider, der sich der Fallgruben seines Unterfangens bewusst ist.
„Klug über Dichtung zu schreiben – nachvollziehbar und mit Gewinn auch für jene, die nicht mit theoretischem Rüstzeug überreichlich ausgestattet sind –, bleibt eine Herausforderung, die souveränen Umgang mit dem Stoff und gewisse Bodenhaftung verlangt.“
Der Essayist meistert diese Aufgabe mit seinem Wissen und
seiner Erfahrung so elegant wie kongenial im vorliegenden Band. Er vermittelt
mit diesen Texten das intellektuelle Vergnügen und „die tiefe Beglücknis, Lyrik
zu lesen oder zu schreiben“ und ist sich angesichts des verfügbaren Platzes
auch der notwendigen Begrenzung bewusst:
„Viele neuere Stilrichtungen kommen im vorliegenden Essaybuch nicht zu Wort: Fragmentarische Zitationen, verbale Experimente, Poesie, die sich nicht mehr an die Buchseite gebunden fühlt ...“
Die einzelnen Kapitel tragen poetisch aufgeladene
Doppeltitel. So heißt zum Beispiel jener von Kapitel 2 „Gesänge vom schwarzen
Berg, oder: Die Vielfalt der Formen“, jener von Kapitel 5 „Jongliersilben und
Blitzableiterworte, oder: Warum man einige Gedichte besser versteht als
andere“, jener von Kapitel 6 „Hölderlins Wahnsinn, oder: Einige Überlegungen
zum kreativen Prozeß“. Ergänzt werden sie durch fortlaufend nummerierte
Porträts einzelner Poet*innen und durch Vignetten. Gerahmt ist der Band von
biografischen Eckpunkten, nämlich Brôcans Anfängen als Spracharbeiter und
Dichter auf der einen und einem Ausblick des bald 60-jährigen in die Zukunft
auf der anderen Seite.
Im Kapitel 1 „Reiterscharen und getunte Autos, oder: Wie man
zur Lyrik kommt“ erzählt der Lyriker, wie er selbst zum Gedicht fand. Denn
eigentlich hatte er andere Pläne:
„Viele meiner frühesten Erinnerungen sind mit Sprache verbunden; sie strahlte schon damals eine ungeheure Faszination aus, und irgendwann zwischen meinem zwölften und vierzehnten Jahr wußte ich, daß für mich nur eines in Frage käme: die Arbeit eines Schriftstellers. Ich träumte davon, abenteuerliche Romane zu schreiben ... Lyrik wäre mir nie in den Sinn gekommen“
Denn mit Lyrik konnte und wollte der Junge dank des ihn dazu
wenig motivierenden Schulunterrichts „nichts anfangen“. Seine Neugier, welche
„Wirkung sich mit Worten erreichen ließe“, brachte ihn später über die Lektüre
französischer Surrealisten sowie von René Char und Philippe Jaccottet zum
eigenen Dichten. Ihn „faszinierte die Kunst, alltägliche Dinge zu sehen und
ihnen eine übers Alltägliche hinausweisende Bedeutung zu verleihen“ sowie die
präzise Kürze der Lyrik, wobei ihn lesend „ein Name zu weiteren Namen“ führte
und jeder dieser Namen für ihn „die Tür zu einer anderen Welt“ wurde. Zu diesen
ihn geprägt und „ein Stück weit begleitet“ habenden Kollegen zählen auch seine
„Vorgänger“ Gotthard de Beauclair, Lothar Klünner, Christian Saalberg und
Gustaf Sobin, denen er diesen Essayband widmete. Zu den prägenden Momenten
gehörte auch eine Episode, die ihn darin bestärkte, Gedichte nicht als männlich
oder weiblich zu klassifizieren, sondern als gut oder schlecht:
„In meiner Studienzeit habe ich einmal ein Seminar zur Lyrik des 20. Jahrhunderts besucht, in dem ausschließlich Gedichte von Männern die Problemstellungen illustrieren sollten. Mein Vorschlag, man könne ohne inhaltliche Einbußen auch Gedichte von Frauen zugrunde legen, wurde mit der Androhung eines Seminarverweises quittiert. Ich hoffe, daß sich diese Scheuklappenzeit nicht wiederholt.“
Der 60-jährige wiederum beklagt im Epilog u.a. den Mangel an
Lyrik-Übersetzungen ins Deutsche. Er zählt eine stattliche Anzahl von
Dichter*innen auf, deren Texte er „irgendwann ... ins Deutsche bringen möchte“,
reichlich Arbeit also noch am und mit dem Gedicht. Zwischen diesen Eckpunkten
breitet Jürgen Brôcan das Ergebnis seiner Beschäftigung mit Gedichten aus. Sein
Interesse ist weit, zugleich geografisch begrenzt auf Literatur aus Europa,
hier vor allem aus Deutschland, Frankreich und Großbritannien, sowie aus den
Vereinigten Staaten von Amerika, was neben seinen Sprachkenntnissen auch seiner
Tätigkeit als Übersetzer zuzuschreiben ist. Was den Essayisten auszeichnet, ist
sein so feinsinniger wie wertschätzender Umgang mit Lyrik und deren
Urheber*innen. Er begründet wohlüberlegt seine Meinungen und Urteile, schlägt
lobende, auch kritische Töne an, die man gut nachvollziehen kann. Er legt hier
eine Fülle an Material vor, gibt Dichterinnen und Dichtern Raum, die er
gelesen, zum Teil übersetzt oder deren Werke er rezensiert hat. Brôcan erwähnt
Vielfalt und Unterschiede zwischen amerikanischer und europäischer bzw.
deutscher Dichtung, nimmt gern auch das Randständige in den Blick, das größere
Aufmerksamkeit verdiene. Er räsoniert über „Motive und Motivationen für das
Schreiben“, geht auf Formwillen und die Wechselwirkung von Gestalt und Inhalt
ein, widmet sich Leitmotiven, zeittypischen Metaphern, Reimen und Metren,
Themen wie Schönheit, Idylle, Pathos und Kitsch oder der „Frage nach der
Wirksamkeit von Dichtung“, erörtert das Schubladendenken, den Einfluss des
(Aufenthalts)Ortes auf das Entstehen der Poesie, aber auch den jeweils
ländertypischen Kanon der Dichtung und die Ungleichbeachtung von Dichterinnen
und Dichtern in der Rezeption. Und er konstatiert, dass Literaturgeschichte
„immer auch eine Geschichte fortgesetzter Ungerechtigkeiten“ sei.
„Es gibt keinen nachvollziehbaren Grund, warum die amerikanischen Dichterinnen des >modernistischen< 20. Jahrhunderts – allen voran Amy Lowell, Muriel Rukeyser, Denise Levertov, Amy Clampitt und natürlich Elisabeth Bishop und Marianne Moore – in der deutschen Rezeption nach wie vor im Schatten ihrer weitaus bekannteren Kollegen wie William Carlos Williams, Wallace Stevens und John Ashbery stehen.“
Im Anhang listet der Autor, nach Kapiteln getrennt, die im
Text erwähnten Bücher auf und macht Lust darauf, sich das eine oder andere
zuzulegen oder wieder einmal aus der eigenen Bibliothek zu holen und darin zu
schmökern. Was dem Essayband allerdings fehlt ist ein Quellenverzeichnis jener
Texte, die zuvor bereits anderswo veröffentlicht wurden. So ging etwa das
Porträt XX. der Bonner Dichterin Gisela Hemau bereits im November 2020 auf der
Web-Plattform Fixpoetry online, ebenda Anfang Dezember 2020 auch das Porträt
XIII., eine eindringliche Rezension der vierbändigen Werkausgabe Thomas Klings.
Da Fixpoetry mit Ende 2020 die Webpräsenz jäh beendete und alle bis dahin
veröffentlichten Beiträge seither nicht mehr verfügbar sind, ist es
begrüßenswert, dass die beiden erwähnten Texte wenigstens hier nun wieder
nachgelesen werden können – vielleicht auch ein paar andere, deren Quellenlage
von mir nicht eruiert werden kann. Zwiespältig beurteile ich Jürgen Brôcans
Entscheidung, sich im Porträt XIV. „Gedanken zu Harald Albrechts Poetik“ zu
machen. Der Lyriker Harald Albrecht ist zugleich Verleger des Aphaia Verlags
und damit Verleger einiger Bücher Brôcans. Diese Nähe setzt den Text angesichts
der vermittelten Begeisterung unnötigerweise dem Verdacht aus, es habe möglicherweise
die Distanz gefehlt.