Judith Zander: im ländchen sommer im winter zur see
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Kristian Kühn
Judith Zander: im ländchen sommer im winter zur see.
Gedichte. München (dtv Verlagsgesell-schaft) 2022. 96 Seiten. 20,00 Euro.
Reste einer Zuordnung
Es ist ein schwieriges Feld mit dieser sog. Elite. Sie
stützt sich selber, versucht auch in der Politik Fuß zu fassen, hat sich von
der öffentlichen Meinung abgekapselt, abgeseilt, fordert – mangels Basis und
Rückhalt – Förderungen aller Art, Preise, für Ausschreibungen, für Gruppen- und
Einzellesungen. Sie sitzen in den Jurys, in den Vereinen und Institutionen,
bewerten sich selber und sind aber anschließend damit nicht zufrieden. Warum
auch? Sie suchen Rückhalt, Verständigung, Verständnis – doch kommt Resonanz,
kommt sie windig und quer und wird ignoriert, als zu profan, abseitig, ja –
wird es ernster – faschistoid, zumindest nicht dazugehörig – also populistisch,
unpädagogisch, nicht zeitgemäß, die falsche Alternative. Recht ist nur das
Künstlerische, das von der Elite geförderte, eine „demokratische“ Aufrichtung
in Form von Selbstbestätigung. Seit vielen Jahren ist das so. Dieses „Poetisiert
euch“, schottet euch ab, verbindet euch mit Förderungen und Gruppierungen aller
Art Ähnlichgesinnten in Europa, in den beiden Amerikas und in dem Rest der
Welt. Denn wir sind ja der Fortschritt, wir haben zwar keine Ressourcen, aber
den Impuls zur Kultur. Diese könnte man sich aneignen und dann vertreten, oder
einfacher, tabula rasa machen, sich festkleben und mit allem, was nicht zur
Elite gehört, brechen. Ich der Mond, ich die geistige Sonne, sie strahlt so
stark in mir. First we take Manhattan, then we take Berlin.
Und das Umfeld? Na, immer noch gibt es die
Öffentlich-Rechtlichen, die Zeitschriften mit ihren Ankündigungen und
gelegentlichen Rezensionen. Wer da mitreden kann, ist schon wer und bestimmt
auch, gefühlt wenigstens, den Diskurs. Da wollen wir alle hin, weg von den
Fake-News des Alltags, hin zu dem Ideal, das uns als Menschen eingeschrieben
ist.
Doch leider kommt dazu die deutsche Mentalität, und so gibt
es als Spiegelbild des Alltags im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, im Rundfunk
und in den Zeitschriften diesen Hang zur pädagogischen Sterilität, und man
sichert sich ab, von Jahr zu Jahr stärker, aussageloser. Ein wunderbares
Beispiel für diese aussagelose Wichtigkeit des gekonnten Jetzt (ohne Haftung)
ist Disney, die Marvel-Reihen, die immer technischer und immer öder werden, Avatare
ohne fassbaren Gehalt, aber dafür in jeder Form ausgeglichen, gerecht und
unangreifbar. Cyborgs filmen, reden und schreiben, so das Ziel, für Cyborgs.
Der Schwarz-waldklinik-Alltag der Sender von damals hat längst auch die
deutschen Preisverleihungen eingeholt. Man wählt ganz mutig aus, was irgendwie
am besten in die noch vorhandenen Fugen und Leerstellen passt. Hinein damit und
zu. Das allein ist schon recht gewagt und könnte die Stelle kosten.
Um mit Judith Zander zu sprechen: S. 31 (fehl)
der mann von heute mit moralverkraftet die trias nicht mehr:gut darf es sein auch schön doch dannauf keinen fall noch wahrwahr ist was als gut gelten kanndas schöne kann es nichthübsch wär’s das wahre hätt nur ein gesichtund nicht so gute augen drin verdammt noch
Hinzu kommt jetzt im Moment der Krieg, den der Westen in keinem Fall verlieren will, und das weiß man in politischen Kreisen noch vom kalten Krieg der 50er- und 60er-Jahre: Bloß keine Experimente! Bloß keine Reform, jetzt nicht, vielleicht nach dem Sieg. Eventuell. Mal sehn.
Hinzu kommt, in diesem speziellen Fall, dass der SWR eine shitstorm-Leiste zugelassen hat, wohl wissend, dass viele ihren Unmut gegenüber der GEZ Luft machen, indem sie gegen Lyrik als Gefühlsduselei der Elite anschreien werden – Judith Zander ist – im Gegensatz zum vielseitsfähigen Vorgänger – eine vorab schon mehrfach Ausgezeichnete, 3sat-Preisträgerin des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs, da weiß man schon, wie die Polsterung funktionieren wird, folgerichtig dann der Wolfgang-Weihrauch-Förderpreis. Ja, da liegt ein Peter-Huchel-Preis ganz nah, vor allem, wenn in den Jurys der Preise immer wieder dieselben Namen zeichnen, die auch anschließend die Rezensionen schreiben. Die deutsche Elite ist gar nicht so groß, aber sie hält zusammen, wenn sie sich kennt und mag. Die andern schweigen, um auch mal erkannt zu werden, vielleicht.
Nun zum Buch, bei dtv erschienen, gefördert vom Deutschen Literaturfonds und dem MWFK (Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur) Brandenburgs – sieht es ein bisschen dünn aus, so auf den ersten Blick, ist es aber nicht. Es erreicht mit ein paar Fotos von der Autorin und Lücken auf dem Verlagspapier auch die obligatorischen 90 Seiten einer Normalpackung Lyrik dieser Tage.
Um es gleich zu sagen: mir gefallen die Gedichte darin ziemlich sehr, sie haben diese lakonische Art, mit Humor und Zuversicht auch in schwierigen Zeiten zu beobachten und das Menschliche, wenn nötig, aufrecht zu erhalten oder gar aufzurichten. Und das alles in bescheidener Lautstärke, ohne Klamauk, Markschreierei oder Fake.
Die Aufteilung ist offenbar einem Konzept geschuldet, nämlich dem der bipolaren Welt. Sommer, Winter, zwei Jahreszeiten (warum nicht vier?), zwei Orte (welche?), zwei Personen „in zwei Teilen eines Ereignisses“. Diese Vorgabe des Klappentextes klingt nach der doppelten Welt der Romantik und nach einer zweiten Ebene der bisherigen Moderne, deren zunehmendes Schwinden die Moderne als unsere Epoche in große Gefahr gebracht hat – hin zu einer einzigen Diesseitsebene materiellen Erlebens und des Ichs als Magnet für alle Wahrnehmung. Nicht so bei Zander: Alles spiele sich gleichzeitig innen und außen, „gleichzeitig im Himmel und auf Erden ab.“ Deshalb zwei Orte, zwei Personen, ich und alter ego, Vorder- und Rückseite ein und derselben Medaille.
Als Motto wird an einen Song der ungarischen Zsuzsa Koncz erinnert. „He, fang mich ein“ – denn sie wolle sich nicht im Mai dem Sturm beugen – doch im Winter gejagt zu werden, sei ihr recht. Denn da habe sie bereits ihren Traubenwein.
Dieses Doppelte, auch des Liedes als Text und als Gesang, als Melodie, ist die eingeschlagene Fährte, die Judith Zander ihre Leserinnen und Leser gehen lässt. Wie eine Chorführerin im antiken Chor. Denn der Sturm, der keltert und die Trauben in den Wein führt, mal von den Schlägen und dem Stampfen unserer Füße abgesehen, hat eine brausende Melodie, eine Poesie, die das Dionysische, das schon die Romantik einfangen wollte, in seinem Wesen entfalten kann. Dazu gehört, wie Zander sich ausdrückt, eine gewisse „Traute“. Diese liegt bei ihr in einem Mäandern des eingeschlagenen Weges (Rhythmus und Melodie anschwellend, abklingend). Und in Begriffsüberlagerungen, changierend zwischen Joke und Tiefe:
heimchen sind als kulturfolger ungefährdetdies mal nebenbei immer wirst du siefinden heuverschnupft und mit bittrem Mund und nuntu mir doch mal die liebe und kund warumliege ich neben dir und bin nichthier wovon willst du ein bild(traute, S. 10 – die Zitate beziehen sich auf ein Lied der Sängerin Veronika Fischer)
Dieses Mäandern führt bei Zander zugleich zu einer Übereinkunft von tiefer mythischer Vorlage und der täglichen Umgangssprache, in der erstere zum Teil heute noch verborgen liegt, wenn man sie ausstellt:
kein menschkeinen reimkein kühles gesangbuch müssteich mir draus machen hätt er sichausgesprochen gegen mich oder ich oder diestufen der terrasse ein tagspeicher nachtschleicher zwischen den winterlinden sahen wir’shell niedergehen wie nie war’s mirnicht schnuppe und meine pfoten leise(S. 12, meteorologie)
Gewisse Zuordnungen lassen sich in diesem Galopp der mäandernden Zweiteilung (groß und kleines Leben, groß und kleines Empfinden), in ihrer Collage, schnell parallelschalten und leicht erkennen. Im Gefüge aller möglichen Assoziationen:
wenn das so weitergeht netter hinternist noch kein arsch in der hose hopseich auch noch rein aber kommeauch wieder raus brauchst dichgar keinen hoffnungen hingeben mirist es gleich ob als schönebrachwasserleiche als solchedoch das wird erst der Anfang seingeh ich dann bei dirum geborener morgenstern shocking blue meineparkabendmilde gestalt wollten deineaugen weit und breiten hände janoch nicht zur kenntnis nehmen es langt(S. 37, wandelstern)
Jemand schrieb, sie sei die Meisterin des Zeilenumbruchs – ich finde sie ist es bezüglich der Prosodie, wann eine Melodie anschwillt, wann eine Silbe fast schwindet, auch gegen den Strich. Wann eine Assoziation Bild wird, wann sie durch den Fluss nur Übergang und Blende ist. Wann sich der Sinn verschiebt und bis zu einem gewissen Grad assoziativ noch bleibt, wenn auch mit verbogener Semantik.
Es ist wie ein doppelter Schlaf und ein zweifaches Aufwachen:
kam das rechte oben zu liegen diemarmeladenseite des mondes in einemtiefen apricot so schien er mir [der Strand] aus der seelezu schweigen sonst keine seeleute in diesemfrühstück heute konnte man eigentlichnoch nicht sagen das istder kern das ist Der Schatteneines Traums wachte ich morgenstunden später noch einmal auf(S. 17f, schleier)
Wenn jemand der Meinung ist, dieses sei ein schwieriges intellektuelles Buch, dann hat er/sie es entweder nicht gelesen, sondern höchstens überflogen, oder null Verständnis mehr bezüglich der Moderne bzw. Postmoderne als literarische Form. Vielleicht sollte man dann wieder lernen, innerlich zu atmen, vielleicht sogar zu singen – eigentlich Grundvoraussetzungen für Gedichte aller Art.
Ich würde sagen, nicht die Lyrik ist in der Krise, sondern der Intellekt, das Empfinden, beides, und dann schwingt nichts mehr zwischen Chor und Führung, zwischen Gruppe und übergeord-neter Gemeinschaft. Im Westen (in letzter Zeit aber leider) nichts Neues!
Wobei ich zugeben muss, dass Zander im zweiten Teil des Bandes schon auch recht kryptisch spirituell wird, bezogen auf hermetisch-vorsokratisch-platonische Bezüge. Ich würde sagen, um es kurz zu machen, das Ganze hat ein bisschen was von der Glutwindröhre, die der Vorsokratiker Anaximander überliefert hat und von der einst Rolf Dieter Brinkmann in seinem Gedichtband Westwärts, Teil 2 schreibt:
„Zurückgekehrt in dieses traurige alte Europa – Glutwindröhre.“
Und heute, fast 50 Jahre später, für Zander, ist diese Glutwindröhre mit Streusand versetzt:
was uns umfängt auf diesemterrain ist namentlich nicht gesichert entwedersteht hier alles in flammen umqualmendie rauchopfer tür und toroder wir waten venarrt im morastauch pfuhl geheißen da draußen im forstalter monokultur ich würde ja sagenbeides zugleich sei hier gast oderfühl dich wie immernach Hause When Worlds Collide sindes ja nicht diese zwei einesvagabundierenden paars herr gasballon und frau beta-world(S. 38, streusand)
Schlafmohn, und aufwachen im Morgen der aufkeimenden Morgenröte „ankerkettenlang“ (S. 53, hochufer) sie, diese Glutwindröhre, aber auch Frau Zander, zusammen führen sie die einen in den Glanz der Sonne, die anderen in die Vergessenheit geistiger Demenz. Beides auf sinnliche Weise, fast heiter. Auch dies die zwei Seiten von Polarität und Symmetrie, so wie sie von ihr auch in ihren Fotos dem Sturm ausgesetzt sind*. Und sie setzt noch eins drauf, und zwar mit Tugend und Tapferkeit diesen Zwiespalt aushalten zu lernen, wie Skelettrippen im Wind, sich auf ein Lied von Suzanne Vega beziehend, das bronzene Zeitalter der Wandlung heraufbeschwörend:
mehr sieg als liederlage inden adern keine frage schmückenwir es bronzen aus legiertgesessen ist noch nichts verlangsamt geschwärzter nacht ruhig kosmisch minusgrade im blut da sollst du’s vermutenlassen und tun nicht so als jagtendir die himmelhunde nach im sommerhalb ja witterst du wechsel und wildbahnen musst du dir die jugendtugenden nicht vergeben deinenwandel selbst vollziehen(S. 56, virtus)
*Zu den Fotos: Bilder, die ebenso der Fährte nach Zuordnung folgen wie die Texte und dabei eine gewisse Reststruktur in ihrer Zweiteilung und Gegensätzlichkeit natürlicher Ordnung aufzeigen, und in dieser Polarität eine Symmetrie aufspüren, die mal sehr klar, mal verwischt heraussticht. Schwarzweiß, kontrastlos, grau in grau, Skelettrippen im Wind.