Judith Herzberg: Gedichte aus den Jahren 1999-2024
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Monika Vasik
Judith Herzberg: Gedichte aus den Jahren 1999-2024. Niederländisch, deutsch. Übersetzt von Christiane Kuby. Berlin (Edition Rugerup) 2024. 155 Seiten. 24,00 Euro.
„worauf es ankommt“
2001 erwarb ich ein schmales, zweisprachiges Bändchen mit 13
Gedichten, das im Verlag Edition Korrespondenzen erschienen war. Es trug den
Titel Dinge, übersetzt aus dem
Niederländischen von Ulrike Schwabe. Judith Herzberg, geboren 1934 in
Amsterdam, war mir damals unbekannt, doch die Texte erweckten beim
Durchblättern sofort mein Interesse. Sie kreisten um drei Hauptthemen: das
Nachsinnen über Krieg und Frieden, die Endlichkeit des Lebens sowie
Betrachtungen der gesellschaftlichen Position der Frau aus Sicht einer
Feministin. Es waren einfache Verse mit großer Tiefe, die wie nebenbei durch
Auslassungen und das Nichtgesagte entstand. Herzberg zeichnete kritisch auf und
analysierte in einem bemerkenswerten Wechsel von abgeklärter Sachlichkeit,
Leidenschaft und diskretem Humor, fern jedes Anflugs von Pathos. Gern hätte ich
mir weitere Gedichtbände zugelegt, um mich ins Werk der Dichterin vertiefen zu
können, doch ich bin des Niederländischen nicht mächtig und es war laut
Buchhandel kein weiteres Werk von ihr in deutscher Sprache verfügbar, obwohl
es, wie heute leicht im Netz recherchierbar, zuvor schon Publikationen auf
Deutsch gegeben hatte, etwa in der Friedenauer Presse (Knistern, 1993) oder im Agora Verlag (Tagesreste, 1986)
Herzberg war in den Niederlanden schon 2001 eine bekannte
Dichterin und ist es heute umso mehr, da sie sich, immer noch dichtend, ihrem
90.Geburtstag am 4. November dieses Jahres nähert. Sie debütierte 1963 mit
ihrem Lyrikband Zeepost, hat seither
zahlreiche Gedichtbände veröffentlicht und wurde in ihrer Heimat mit vielen
Preisen ausgezeichnet. Sie ist auch Übersetzerin ins Niederländische, etwa von
Werken Ernst Jandls und August Strindbergs, und verfasste Drehbücher. Im
deutschsprachigen Raum kennt man sie vor allem als Dramatikerin, deren
Theaterstücke an etlichen Bühnen aufgeführt wurden. Es ist zu begrüßen, dass
der Verlag Edition Rugerup nun anlässlich des Gastlandauftritts „Niederlande
und Flandern“ bei der Leipziger Buchmesse 2024 eine zweisprachige Anthologie
mit Herzbergs Gedich-ten der letzten 25 Jahre herausbrachte, übersetzt von
Christiane Kuby, ein Projekt, das vom rührigen Nederlands Letterenfonds
gefördert wurde. Zwei Jahre zuvor, nämlich 2022, war Judith Herzberg in
Deutschland für ihr poetisches Gesamtwerk mit dem Horst-Bienek-Preis für Lyrik
der Bayerischen Akademie der Schönen Künste ausgezeichnet worden.
Wie aus dem Inhaltsverzeichnis ersichtlich, wurden in die
Anthologie Gedichte aus acht Publikationen in chronologischer Reihenfolge
aufgenommen, jeweils plus/minus 10 Texte aus jedem Band, doch nur 2 Gedichte
aus dem ältesten hier vertretenen Lyrikband mit dem Titel Bijvangst (Beifang, 1999) sowie die beiden letzten Texte, die als
einzige datiert sind, nämlich mit Oktober 2023, und in der Tageszeitung Het Parool erstveröffentlicht wurden.
Ein kleinlicher Einwand: Der angegebene Zeitumfang 1999-2024 ist ein Blickfang,
ein Vierteljahrhundert aktuelle Dichtkunst von Judith Herzberg. Doch es
erscheint ein Deut zu großzügig, wenn eine Anthologie, die sich auf bereits
veröffentlichte Beiträge stützt, die dann ja auch noch übersetzt werden müssen,
bereits im Februar vorliegt. Im Inhaltsverzeichnis heißt es über die letzten
Texte: „nach 2022 veröffentlicht“, eine dehnbare Zeitspanne. Also sind offenbar
keine Veröffentlichungen aus dem Jahr 2024 enthalten, wie es auch die Datierung
Oktober 2023 nahelegt.
Formal und thematisch liegt eine breite Auswahl sehr
verschiedener Beiträge vor, deren Gemeinsamkeit es ist, dass sie oft dem
natürlichen Sprechen nahe und dennoch sprachlich äußerst verknappt, auf das
Wesentliche reduziert sind. Das Schweigen, das Ungesagte ist präsent, diese
schlichte Schönheit der Stille. Christoph Meckel (1935-2020) hat 1984 in einer
Laudatio von der „Magie des Nichtgesagten“ gesprochen, von der die Verse der
Dichterin reich seien. Motiv und Anlässe ihrer Poesie scheinen einfach zu sein.
Herzberg schöpft aus Beobachtungen und Momentaufnahmen aus dem Alltag, die
neben Analysen und Ich-Reflexionen stehen, stellt gewidmete Texte, die auf die
Essenz einer Person fokussieren, neben Gedanken bei Naturbetrachtungen, neben
Träume und Erinnerungen.
„Hiero und DaroEs gibt auch solchedie würden nie ein Foto faltendoch auf einmal, und mit Wonne,dem Nachbarn mit der Axtden Schädel spalten.“
Mal werden Wortspiele und Zitate zum Ausgangspunkt eines
Textes, dann wieder hinterfragt Herzberg Floskeln und Allgemeinplätze, pocht
auf Wahrhaftigkeit und fordert achtsamere Worte sowie Sprachpräzision ein. Etwa
wenn sie im Gedicht „Protestmanifest“ die Phrase „wir müssen“ in Zusammenhang
mit Appellen zum Aktionismus zerpflückt.
Formal fallen einige kurze Prosatexte in der Mitte der
Anthologie auf, die dem 2016 erschienenen Band Er was er eens en er was er eens niet (DeepL: es war einmal und es
war einmal nicht) entnommen wurden. Einer mit dem Titel „Zurückgekommen“
beginnt mit dem für Judith Herzberg fast schon als redselig zu bezeichnenden
Satz:
„Als ich elf wurde, war der Krieg ein halbes Jahr vorbei.“
Es handelt sich um einen dialogischen Text, der sich mit dem
Überleben und dem wieder nach Hause Zurückkommen auseinandersetzt. Das
Entsetzen des 2. Weltkriegs ist Folie auch für andere Texte, Erfahrungen, die
hier zumeist durch Setzen einzelner Worte einen weiten Bedeutungs- und
Wahrnehmungszusammenhang anreißen. Herzberg ist Jüdin, eine Zeitzeugin, die,
wie ihre beiden Geschwister, den Krieg und die deutsche Besatzungszeit bei
wechselnden Pflegeeltern in den Niederlanden überlebte. Auch ihre Eltern, die ins
Konzentrationslager Bergen-Belsen deportiert worden waren, kehrten nach dem
Kriegsende wieder in die Niederlande zurück.
„EntwurzeltEs ähnelt exakt, dieses Land,dem, wo man uns zwanguns einzuschiffen. Nach der bekannten Tragödiewurden wir wieder angeschwemmt, gerettet,wie man so sagt.Wir sind nun künftighin Überlebendewährend die, die an Landblieben, so nicht zu heißen brauchen.Das Land, jetzt wo wir wieder da sindist zwar dasselbe, aber gezeichnet.Gezeichnet und beschrieben. Nurin der Erinnerung sich gleich geblieben.“