Joseph Vogl: Meteor - Versuch über das Schwebende
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Ulrich Schäfer-Newiger
Joseph Vogl: Meteor, Versuch über das Schwebende.
München (C.H. Beck) 2025. 144 Seiten. 20,00 Euro.
Vom
Gleißen und Monden
Wenn hier ein fünfteiliger Essay
angezeigt wird, in dem nicht von einem Gedicht die Rede ist, dann deshalb, weil
der Text die Leser tatsächlich aber über die Grundlagen der Poesie, des
poetischen Sprechens und Denkens und Wahrnehmens aufklärt, ohne dass der Autor
das explizit behauptet. Sondern dies geschieht gleichsam en passant. Schon die
Kapitel-überschriften sind Poesie: Leicht werden / Jenseits des Triebprinzips
/ Das Meteorische / Wolkenbotschaft / Empirismus des Flüchtigen / Unfertige
Gegend / Das Flimmern des Einzelfalls.
Um was geht es? Der Text ist die
in erweiterte Buchform gegossene Abschiedsvorlesung des Autors an der
Humboldt-Universität vom Sommer 2023. Sein Gegenstand ist unser – salopp formuliert
- eingeschränkt-unsicheres Wahrnehmungsvermögen, ist der Prozess der
Erkennt-nis, dass Gewissheit eine Illusion ist, dass unsere Erkenntnis über die
Welt, (Gott, Natur Seele usw.) nur
nebulös ist und sein kann. Und dem Autor als Literaturprofessor dienen als
Quelle für seine kritischen auf- und absteigenden, schweren und leichten
Begründungen für dieses von ihm wahrgenommene Phänomen naturgemäß literarische
Texte – aber eben gerade, das ist zu bemerken, keine Gedichte. Sondern zum
Beispiel: Robert Musils ‚Mann ohne Eigenschaften‘, Borges‘ berühmtes Tlön,
Uqbar, Orbis Tertius, weiter zurück: Lukrez, Epikur oder Avicenna, der sich
einen ‚schwebenden Menschen‘ erdachte, oder Galileis Mondbeobachtungen. Dessen
Zeichnungen davon sind im Buch wiedergegen. Hierhin gehört vor allem Goethes
Wolkenlehre (die gibt es wirklich). Und wenn der Autor bei Kafka angelangt ist,
spüren die Leser: Das ist sein Spezialgebiet.
Wir lernen etwas über den Bedeutungsraum des altgriechischen metéōros (alles Schwebende und in die Luft Gehobene) und dass mit der Frage nach Schwere und Leichtigkeit des Erkennens auch die Machtverhältnisse, Weltverhältnisse und Seelenverfassungen gemeint sind, die, sich kreuzend, einwirken auf den Erkenntnisprozess. Am Beispiel der Wolkenbotschaft seien die Gedankengänge des Autors kurz skizziert: Die Wolken stören zunächst die (optische) Himmelserkundung, die astronomische Beobach-tung, Galileis ärgerliche Klagen darüber sind dokumentiert. Sie hat von Anfang an aber auch metaphorische Bedeutung: Und der Herr sprach zu Mose: Siehe, ich will zu dir kommen in einer dicken Wolke (Mose 2, 19,9). Leonardo da Vinci stellte fest, die Wolke gehöre zur Klasse der Körper ohne Oberfläche.

Nach Goethe wiederum gehört sie zum Trüben, Verworrenen, Unruhigen, sie ist das Übergängliche. Sie ist, so Vogl, ein irreguläres Wesen, eine ontologische Seltsamkeit. Sie ist ein Objekt, das nie und nirgends mit sich selbst bleibt. Sie ist durch Unterscheidungen charakterisiert und erschwert diese zugleich. Sie hat sich zwischen die Dinge und Wörter geschoben und einen semantischen Nebel erzeugt. Das führt zu Ferdinand de Saussures Wolkendiagramm, das er für das unbestimmte Feld der Vorstellungen und das gleichermaßen unbestimmte Feld der Laute sich ausdachte. Unser Denken, meinte de Saussure, ist wie eine Nebelwolke, in der nichts notwendigerweise begrenzt ist. Weiter urteilt der Autor Vogl: Die Wolken sind ein Handeln ohne Handelndes; sie sind allenfalls durch gegenstrebige Modi bestimmt, als Tätig-Leidendes, Formlos-Geformtes, Fallend-Steigendes, Reglos-Bewegtes.
Sind das nicht zugleich Zustandsbeschreibungen einerseits des um seine Autonomie fürchtenden Subjekts in unserer unsicheren, unüberschaubaren, widersprüchlichen Gegenwart, andererseits für eine Struktur moderner Lyrik? Die metaphorische Wolke erinnert an die Metapher des Schaums, die seinerzeit (1962) der Philosoph Klaus Heinrich für den Identitätsverlust des Individuums bemühte: Ungreifbar, von minderer Realität, Drohung des Erstickens. Soweit treibt Joseph Vogl die Wolkenmetaphorik nicht. Aber er erkennt auch gleichzeitig das Problem, das schon Klaus Heinrich formulierte: Wie sollen wir die Realität einer Welt beschreiben, die sich nicht fassen lässt? Und kein Geringerer – lernen wir bei Vogl – als der Fürstendiener Goethe erkannte auch die politische Sprengkraft der Wolkenmetapher: Die irregulären, zentrifugalen, schwebenden, von den Gesetzen der Schwerkraft nicht mehr gebändigten Elemente betrachtete Goethe als „kolossale Gegner“, erinnerten sie ihn doch an die „von revolutionären Gesinnungen ergriffenen Massen“. Das nicht Greif- und Fassbare entgleitet naturgemäß auch dem Zugriff der Herrschenden.
Darin liegt einerseits ihr emanzipatorisches Element, andererseits, so Vogl, führt die Ereignishaftigkeit des Schwebenden … in eine instabile und fragile Wahrnehmungswelt. Die Wolkengebilde haben, so der Autor, eine epistemische und semiotische Dimension; beide sind nicht voneinander zu trennen. Nur als Einheit können sie zum Gegenstand des Wissens und der Beschreibung oder der Sprache dieses Wissens werden. Was bedeutet das aber für die Sprache, mit der diese nicht fassbare Welt, dieses (besondere, unstete, fragile, undeutliche) Wissen darüber beschrieben werden kann? An dieser Stelle nun führt der Autor die Begriffe Poetik oder Poetologie des Wissens über das Schwebende in die Argumentation ein. (Wir erinnern uns an Novalis: „Die vollendete Form der Wissenschaft muss poetisch sein.“) Wenn alles fließt und schwärmt, keine festen Konturen einnimmt, sich ständig verändert, wenn es Gegenständliches noch geben sollte, so lässt sich dies kaum mit …alteuropäischen Kategorien von Form und Materie, von Substanz und Attribut fassen. Damit hat der Autor, ohne es auszusprechen, nebenbei – und nicht nur an dieser Stelle - das Grundproblem der Darstellung der Quantenphysik beschrieben. Wo es nur losgelöste Ereignispartikel, gegenstandsloses Geschehen, reine Ereignishaftigkeit gibt, da kann dies eigentlich nur als infinitive oder partizipiale Verbform ausgedrückt werden: nicht der aufgehende Mond, sondern Monden, … nicht ein gleißendes Licht, sondern das Gleißen usw. Diese alternativen Sprachvorschläge erinnern an die Sprachprobleme und -spiele sowohl der Quantenphysiker (der Wissenschaftspublizist und Physiker Florian Aigner zum Beispiel, hat in seinem Buch „Warum wir nicht durch die Wände gehen“, in welchem er versucht, die Quantenphysik verständlich darzustellen, ausgeführt, klassische, daher untaugliche Begriffe wie ‚Teilchen‘ oder ‚Welle‘ müssten eigentlich ersetzt werden durch neue Worte wie „Quantenschwubbel“ oder „Materieflubber“, aber leider gebe es nun mal die alten Begriffe. Und es nimmt da nicht Wunder, dass der bekannte italienische Quantenphysiker Carlo Rovelli den Begriff „Quantenschaum“ in den Versuch, die Quantenphysik zu beschreiben, eingeführt hat.), diese alternativen Sprachvorschläge erinnern aber auch an die Aufgabe, der die moderne Lyrik ausgesetzt ist: Das moderne Gedicht kann „den von Narrativen, Bildern und Informationen zerfaserten Realitäten der Gegenwart“ [von denen handelt Vogls Essay] „sprechend gerecht werden, ohne Komplexität zu reduzieren oder im fruchtlosen Krieg um Deutungshoheiten unterzugehen.“ (Steffen Popp).
Der Autor weist auch auf die jüngste Physik hin, die eine Welt von Fluktuationen, Schwankungen, Verzweigungen und Instabilitäten sei. Bei Vogl kommt in diesem Zusammenhang Kafka ins Spiel. Seine Erzählungen, und vor allem der Erzählduktus im Roman ‚Das Schloss‘, dienen als Beispiele für eine Art Anschauungsqual, für den mehrfachen Entzug von Gewissheiten bei der Beschreibung dessen, was der Protagonist K. wahrnimmt.
Aus sprachlicher Sicht, meint Vogl abschließend, sei der Essay am ehesten die Form, die dieser schwebend-unstetigen Wirklichkeit gerecht werde. So kommt Vogl nicht – und das ist aus der Sicht des Rezensenten zu bedauern – zu der vielleicht doch naheliegenderen gegenwärtigen Lyrik, die in ihrer Vielfältigkeit, ihren sprachspielerischen Möglichkeiten, ihrer Wandelbarkeit, ihren verschiedenen Anleihen der Wolkenhaftigkeit des Wahrgenommenen möglicherweise noch näher entspricht. Poetisches Denken ist das, was Joseph Vogl in seinem Essay eigentlich, ohne es ausdrücklich auszusprechen, immer wieder beschreibt und als Erkenntnismedium für unsere gegenwärtige Welt ausweist.
Sein Text ist in der Tat ein luzides Beispiel eines gelungenen poetischen Essays, zwischen dem Leichten und der Schwere jonglierend, Bilder und Metaphern unabsehbar vermischend. Eine ästhetische Freude!