Jonas Eika: Nach der Sonne
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Stefan Hölscher
Jonas Eika: Nach der Sonne.
Erzählungen. Übersetzt von Ursel Allenstein. München (Hanser Verlag) 2020. 160
Seiten. 20,00 Euro.
Meta/Physischer Masochismus
Die sinnlich-magisch-bizarren
Erzählungen des queeren Autors Jonas Eika
Fünf bizarre Erzählungen vereint der 2018 im Original
und nun auch von Ursel Allenstein übersetzt auf Deutsch bei Hanser erschienene
Band „Nach der Sonne“ des jungen dänischen Autors Jonas Eika, der für dieses
Buch 2019 den renommierten Preis des nordischen Rats als jüngster Autor in der
Vergabeliste dieses Preises überhaupt erhalten hat.
Ein IT-Berater, Ich-Erzähler der ersten Erzählung,
kommt nach „einem äußerst fiktiven Flug“ in Kopenhagen an, um sich zu der Bank
zu begeben, für die er schon oft tätig war. Anstelle der Bank ist aber nur noch
ein Krater da. Dafür trifft er Alvin, der ihn in die Geheimnisse der Derivate
Geschäfte einweiht, mit denen sich, wie er erklärt, mühelos in großen Mengen
Geld verdienen lässt. Zwischen dem Ich-Erzähler, der öfter an seine Ex-Frau
denken muss, und dem etwa nur halb so alten Alvin entwickelt sich eine ebenso
seltsame wie kurze Romanze, die die beiden ziemlich abrupt von Kopenhagen nach
Bukarest führt, wo die Geschichte eine weitere schräge Wendung nimmt, bevor sie
in den unterirdischen Tunnelgängen des Kraters in Kopenhagen, in denen die
Bankangestellten, auch wenn es ihr Bankgebäude gar nicht mehr gibt, business as
usual betreiben, endet:
Und jetzt war es einsam und gleichgültig geworden. Alvins Hände waren nicht gefaltet, sondern geradezu krampfhaft verflochten, als hätten sie aneinander festhalten müssen, während er eingeschlafen war. »Ich war noch nie in Rumänien.« Ich zuckte vor Schreck unter der Decke zusammen. »Warst du schon mal da?«, hörte ich als Nächstes, und jetzt sah ich auch, wie sich Alvins Lippen bewegten. »Nein«, flüsterte ich. »Nie.« Am späten Abend landeten wir in Bukarest und nahmen ein Taxi ins Hotel. Noch leicht beduselt von den Getränken an Bord, warfen wir uns auf die bordeauxrote Tagesdecke und zerstörten die beiden aus Handtüchern geformten Schwäne.
Die dritte Geschichte des
Bandes „Rachel, Nevada“, erzählt von einem alten Ehepaar, Antonio und Fay,
deren zwei Töchter an Krebs gestorben sind und die sich daraufhin in einem
Wohnmobil durch die Vereinigten Staaten bewegt haben, um sich schließlich in
Rachel, Nevada niederzulassen, einem Ort, in dem Einheimische und Touristen begierig
die Flugbewegungen von vermeintlichen UFOs verfolgen. Während Fay Vorträge über
Außerirdisches hält, hat Antonio in der Wüste ein Objekt entdeckt, das er „den
Sender“ nennt und das mit seinem ganz eigenen Geräusch unterschiedlichste Tiere
magisch anzieht. Drei Jahre nach seiner Entdeckung ist Antonio endlich so weit,
dass er sich, was er nur in Abwesenheit von Fay tun kann, am Ort des Senders einen
Schnitt in seine Luftröhre setzt und sich ein kleines Stück des anorganischen Materials
in seine Kehle implantiert, um Töne genau wie der Sender zu produzieren und mit
ihm eins zu werden…
Die zweite Erzählung des
Bandes, „Bad Mexican Dog“, die in der fünften und titelgleichen ihre Fortsetzung
findet, handelt von jungen Beach Boys, die ihren Lebensunterhalt mit dem
Trinkgeld von Touristen verdienen, denen sie am Strand Gefälligkeiten erweisen,
indem sie ihnen Liegen und Schirme zurechtrücken, sie eincremen und, wie die
Lesenden zunehmend genauer erfahren, auch noch ganz andere Dienste erweisen.
Als Ginger, einer der Jungs, in der Eile seiner Dienstgänge stolpert und
zwischen die Schenkel einer Sonnenbadenden fällt, wird er von deren
eifersüchtigem Begleiter mit einem Stein erschlagen, von den übrigen Beach Boys
aber in einem ihnen offenbar gut vertrauten Ritual, bei dem sie sich mit
„Stielen“ so lange anal malträtieren, bis Blut und Sperma fließen, wieder zum
Leben erweckt. Der erste Teil der Geschichte mündet am Ende in eine Sequenz, bei
der ein dänisches Paar von einem Jungen, der, wie er vorgibt, Aufnahmen für
seine Ausbildung an der Filmhochschule braucht, dazu animiert wird, ihn vor
laufender Kamera zu demütigen und benutzen, was in der letzten Erzählung des
Bandes zu unangenehmen Konsequenzen für die beiden führt.
Eikas Geschichten sind keine
Räuberpistolen, keine Fantasy-Storys und schon gar keine Pornos. Sie changieren
zwischen präziser Schilderung, Science-Fiction-artigen
Wirklichkeits-konstruktionen und magischem Wahrnehmen, wobei die Übergänge so
fließend sind, dass sich inmitten einer scheinbar realistischen Schilderung die
Worte aus ihrer gewohnten grammatischen und semantischen Struktur ebenso
rausbewegen wie die Figuren aus einer ihren Lebenspuls abschneidenden Außenwelt:
Nachdem Manuel und ich uns umgezogen haben, Orange im Raum und die Sonne ein Fenster zum Meer Spritzer von dickflüssigem weißen Saft orange im poolblauen Bassin, tragen wir Gingers Körper an den Strand.
Was Eikas Erzählungen
thematisch verbindet, ist, dass sie von Wesen handeln, die inmitten einer
ausgetickerten kapitalistischen Welt von einer geradezu extremen physischen
Gier getrieben sind, die erst im (selbst-)zerstörerischen Übersteigen des
Körpers zu einer Art Erfüllung findet. Der sozioökonomische Kontext tritt dabei
zumeist nur umrisshaft in Erscheinung. Am stärksten expliziert ist er noch in „Alvin“
mit dem Motiv des scheinbar von der Wirklichkeit entkoppelten und gleichzeitig
doch immer Verlierer zu Gewinnern produzierenden Derivate Geschäften. In „Bad
Mexican Dog“ bildet der Kapitalismus einerseits die Kulisse, vor der die
Existenz der vom Clubbesitzer wie den Touristen ausgebeuteten Beach Boys
überhaupt erst möglich ist; gleichzeitig zeigt er sich mit den hemmungslosen
Sexgeschäften und der damit verbundenen Erpressung von seiner besonders hässlichen
Seite. In „Ich, Rory und Aurora“ wird vor allem am Ende der Erzählung deutlich,
dass die Obdachlosen, die die Geschichte bevölkern, nicht nur Objekte eines
geradezu perversen Sozialsystems mit einem perfekt ausgeklügelten Kreislauf von
Entzugs- und Beschäftigungstherapien einerseits und der Verfügbarkeit von
Happy-Pillen („Vokalen“ genannt) andererseits sind, sondern gleichzeitig als
Frühversterbende auch als Organlieferanten fabrikmäßig ausgeschlachtet werden.
Eikas Kapitalismuskritik ist ohne Frage radikal und fundamental. Eika
präsentiert aber, fast hätte ich gesagt, gottseidank an keiner Stelle
politische Botschaften, die den Lesenden zu so etwas wie „richtigen Einsichten“
lenken wollen. Dazu schreibt er einerseits zu subtil und andererseits viel zu
raffiniert.
Was Eika von vielen anderen
Gegenwartsautor*innen, die mit literarischem Anspruch schreiben, unterscheidet,
ist: er kann Spannung. Man möchte als Lesender unbedingt wissen, wie es in der
Geschichte und mit den Figuren weitergeht, auch wenn man ziemlich schnell
begriffen hat, dass die meisten Lese- und Handlungserwartungen krass enttäuscht
werden. So erfahren die Lesenden von „Rachel, Nevada“ zwar, dass Antonio, wie
auch immer er das mit seinem aufgeschlitzten Hals geschafft haben mag, nach
Haus zurückkommt und dort auch seine Frau wiedertrifft. Die Geschichte endet
aber mit einem siebenseitigen, geradezu lexikalisch sachlichen Bericht über die
2017 verstorbene amerikanische Songwriterin und Akkordeonistin Karen Ruthio,
der Fay meint, im Radio begegnet zu sein. Und Manuel, mit dem den
Ich-erzählenden Beach Boy in „Bad Mexican Dog“ deutlich mehr als heißer Sex
verbindet, verschwindet schließlich in einem lapidaren Nebensatz für immer aus
der Story. Der in jeder Bedeutung dieses Wortes queere Autor Eika enttäuscht
seine Leser*innen fast systematisch-boshaft und schafft es gleichzeitig, sie im
Fluss seiner sinnlichen, magisch-realistischen, elektrisch aufgeladenen Prosa
genauso gierig zu halten wie es seine Figuren sind. Und vielleicht ist das
überhaupt das Markenzeichen dieser Prosa: die physische Gier, die das Movens
ihrer Figuren ist und die nur, gekoppelt an den Körper, in (selbst-)zerstörerisch
Überschreitendem kurze Erfüllung und das ersehnte Einheitserleben findet, diese
physische Gier nicht einfach zu beschreiben, sondern atmosphärisch so zu
evozieren, dass Lesende so wie die Figuren der Geschichten komplett darin
eintauchen können:
Dann ist es Abend, und er schubst mich vornüber in das Bassin vor der Umkleidebank. Das Meerwasser dampft orange und reicht mir bis zur Mitte der Oberschenkel. Es ist dickflüssig und lebendig geworden, weil wir es Tag für Tag mit den quallenartigen Klecksen füllen, sie haben sich untereinander verbunden und mit dem Salz, kleine geäderte weißliche Eier in prallen Trauben. Ich stehe auf allen vieren vor Manu, der hinter mir kniet und mich mit dem lebenden Wasser füttert, es mir mit der Hand in den Hintern schaufelt. Die Sonne ist jetzt in mir, denn die Sonne versinkt im Meer. Dann zeigt er mir das hüllenartige, durchsichtige Garnelenskelett, das er am Strand gefunden hat, schiebt die Hand in seine Badehose und zieht seinen langen, dünnen Schwanz heraus. »Hast du Lust?«, fragt er und nickt, und ich nicke auch, und dann dreht er den Kopf von der Skeletthülle ab, weicht den Rest im lebenden Wasser ein und zieht sie sich über den Schwanz. Sie schließt sich eng darum, nur die Schreitbeine baumeln frei von der Peniswurzel. Ich lasse mich mit gekrümmtem Rücken im Bassin treiben, sodass mein Hintern aus dem Wasser ragt, mache mich innerlich weich und spüre, wie er in mich hineingleitet: Das Gefühl von etwas Geriffeltem, Kribbelndem im Schleimigen, Kalten. Durch das Loch in der Wand wirft die Sonne eine Lichtsäule aufs Wasser. Manu bewegt sich in mir, meine Wirbelsäule wird zu Gelee. Ich spüre die Eier darin: Ich und die anderen Boys, wir pulsieren ganz unten, wandern langsam durch den Unterleib. Spritzer von dickflüssigem weißen Saft, erst Manu in mir, dann ich mit Eiern in Sonne auf sandigem Grund. Wir holen das Beste heraus aus dem, was da ist. Durch meine glitschige Eihülle kann ich die anderen Eier sehen, ein paar längliche Wesen schlüpfen daraus und schwimmen unbeholfen davon, lachen, verknäulen sich ineinander, rollen im aufwirbelnden Sand herum. Etwas trifft mich im Gesicht, dann spüre ich einen weichen Fuß an meinem Bauch, pralle auf den Boden und werde wieder zurückgeworfen zu den Körpern im Licht. Für einen Sekundenbruchteil lacht mich ein leuchtend rotes Auge durch die Eihülle an. Ein dünnes Bein legt sich über meinen Brustkorb und drückt mich wieder zu Boden, während mich Fühler am Bauch kitzeln. Ich lache und drehe mich zur Hülle, strample und trete mit all meinen Beinen. Und plötzlich bin auch ich geschlüpft und setze mich in Bewegung, mit gebogenem Rücken und Gliedmaßen wie organischen Paddeln bewege ich mich durch das Wasser, ruhig dahingleitend, in einem Tempo, das sich genau richtig anfühlt für meinen kleinen Körper. Die anderen Boys schwimmen auch irgendwo im Wasser. Wir sind alle sehr klein.
Was ist das, was da wirklich
passiert? Was ist das, was da genau gemeint ist? – Wenn wir Eika lesen, können
wir die Absurdität dieser Fragen erfahren und gleichzeitig beginnen, die Einheit
von Wort und Fleisch neu zu begreifen.