Direkt zum Seiteninhalt

Jón Kalman Stefánsson: Drei Gedichte

Werkstatt/Reihen > Reihen > Wortlaut Island
Jón Kalman Stefánsson

Drei Gedichte

(Aus: Djöflarnir taka á sig náðir og vakna sem guðir / Die Teufel gehen zu Bett und erwachen als Götter
Benedikt, Reykjavík 2021
© Jón Kalman Stefánsson, 2021
Published by agreement with Copenhagen Literary Agency ApS, Copenhagen.)

Aus dem Isländischen übertragen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer



DER MORGEN BRICHT AN ÜBER DER STADT

und das Licht fegt die Dunkelheit von den höchsten Dächern,
der Gletscher, der alte Feuerkegel
auf der anderen Seite der großen Bucht, so breit,
dass ich ein Fernglas brauche oder
zwei Tage, um dorthin zu kommen

der Morgen bricht an, und dann erwachen wir,
alle drei

ich, die Welt und der Husten
meines Nachbarn

Nächtens sind die Welt und mein Nachbar beide still,
aber das Erwachen ist unruhiger als der Schlaf,
und seine Träume manchmal schwieriger –
er hustet eine halbe Stunde lang, vierzig Minuten,
er reinigt sich, es steckt so viel Nacht in ihm drin,
so viele ungenutzte Träume,
er hustet heftig, manchmal aus Verzweiflung,
in jedem Husten eine lang gerauchte Zigarette,
in jedem Husten eine Erinnerung daran,
was wir nicht hätten tun sollen

oder was wir lieber getan hätten

Ich schaue mir den Gletscher durch das Fernglas an,
mein Nachbar hustet,
bald werden sie beide verschwinden



SELBST DAS GLÜCK TRÄGT EINE NARBE DES SCHMERZES

Heute Nacht hat es geschneit
und der Morgenhimmel
ist so dunkel über der Stadt,
als ob jemand gestorben wäre

Es hat so viele Morgen gegeben, seit du gegangen bist,  
es hat es so viele Tage geschneit
über mein Leben ohne dich,
dass ich fürchte, nie wieder glücklich
sein zu können

Der Schmerz ist die Erinnerung,
die mich an den Tod,  
dich an das Leben bindet



OB ES SIE GIBT, DIE RICHTIGE VERSION VOM LEBEN

Ich lese über das sechzehnte Jahrhundert
und warte, dass der Kaffee aufkocht,
während Nina Simone über die andere Frau
singt. Es ist November,
es ist Morgen und die Dunkelheit
draußen sieht aus wie Berge

Sie singt über die andere Frau,
die sich in den Schlaf weint,
während die Dunkelheit zu Bergen wird
in ihrer Brust

und ich summe das Lied mit,
freue mich auf den Tag,
als mich plötzlich bitter eine Wehmut überkommt

Ich weiß nicht, ob es mit dem
sechzehnten Jahrhundert, mit dem,
was ich darüber lese, zu tun hat
oder mit Nina und der Dunkelheit

möglich auch, es ist die andere Frau,
der andere Mann,
möglich auch, es ist

der Zweifel,
ob man das Leben lebt,
das für einen vorgesehen war,
und ob nicht die Wehmut,
die aus den Tiefen des Schlafs erwacht,
die Sehnsucht ist
nach all den Ereignissen,
die du niemals erleben wirst,
die Sehnsucht
nach den Menschen, die
du irgendwann einmal
irgendwo
hättest umarmen, küssen, lieben sollen

Die andere Frau, der
andere Mann

und die Wehmut
lässt Berge in unserem Innern entstehen

wenn wir das Leben spüren,
das wir nicht leben


Jón Kalman Stefánsson, geb. 1963 in Reykjavík, verbrachte einen Großteil seiner frühen Jahre in Westisland, wo er verschiedenen Jobs nachging: in einem Schlachthof, in der Fischindustrie, als Maurer und einen Sommer lang als Polizist am internationalen Flughafen Keflavík. Von 1986 bis 1991 studierte er Literaturwissenschaft an der Universität von Island, schloss sein Studium jedoch nicht ab. Die nächsten acht Jahre unterrichtete er Literatur an zwei Schulen in Akranes. Gleichzeitig schrieb er Artikel und Rezensionen für die Zeitung Morgunblaðið und für den isländischen Radiosender RÚV. Von 1992 bis 1995 lebte er in Kopenhagen. Nach seiner Rückkehr arbeitete er bis zum Jahr 2000 als Bibliothekar in der Bibliothek Mosfellsbær in der Nähe von Reykjavík. Seitdem ist er hauptberuflich als Schriftsteller tätig.
Sein erstes veröffentlichtes Werk, der Gedichtband Með byssuleyfi á eilífðina / Ein Waffenschein für die Ewigkeit, erschien 1988. Es folgten weitere Gedichtbände, zuletzt 2021 Djöflarnir taka á sig náðir og vakna sem guðir / Die Teufel gehen zu Bett und erwachen als Götter, dem die heutigen Gedichte entnommen sind, und eine Reihe von Romanen, von denen Sumarljós, og svo kemur nóttin / Sommerlicht und dann kommt die Nacht 2005 den Isländischen Literaturpreis gewann. Drei seiner Bücher wurden auch für den Literaturpreis des Nordischen Rates nominiert.
Die meisten seiner Romane sind auch ins Deutsche übersetzt, zuletzt Sága Ásta / Ástas Geschichte. Sehr große Aufmerksamkeit erfuhr auch hier seine Romantrilogie um einen nur „der Junge“ genannten Protagonisten im Island vor mehr als 100 Jahren: Himmel und Hölle, Der Schmerz der Engel und Das Herz des Menschen.
Zurück zum Seiteninhalt