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Johannes Witek: Zehntausend Körper

Gedichte > Gedichte der Woche
Johannes Witek

Zehntausend Körper


Zehntausend nackte, androgyne Körper
auf dem Weg zum See
auf dem Weg zum See

Zehntausend nackte, androgyne Körper
auf dem Weg zum Wasser
auf der Suche nach
dem letzten Stück Realität
in einer Welt
die sich selbst verschluckt hat

(Wasser ist real, oder nicht?
– war es immer)
(Aber wie real ist real?)

Zehntausend nackte Körper,
androgyn,
unter Bildern einer Sonne
zwischen Bildern von Landschaft
unter Bildern von Vögeln
vor Bildern von Bergen

Zehntausend Körper
zehntausend nackte Körper

der Puls treibt sie vorwärts
derselbe Puls treibt die Blumen durch
das Grün

Bilder von Blumen
Bilder von Grün

Zehntausend Körper
vs. zehntausend Körper
mit Bildern vom Krieg
von Krieg wie er war
als er noch Körper gegen Körper
ging

Zehntausend stark
Zehntausend an der Zahl

… deine Erinnerungen nur ein Bild
von Erinnerungen
eines vom anderen,
dieses von jenem,
deine Gedanken
nur eine andere Flut von Eindrücken
du selbst nur
eine Flut von Eindrücken
(aber wer registriert?)
alles
nur eine Flut von Eindrücken
vor dem Hintergrund eines
kleinsten gemeinsamen Nenners
unter und hinter und über den
und außerhalb
dessen
es nicht geht;

die Kleidung die du trägst
(nackte Körper):
Bilder von einem Spiegel
darin Bilder von Bildern
von dir und Bilder deiner
Kleidung

die glatten Makel deiner Haut
(nackte Körper)
die Berge und Täler und
Schluchten und Furchen
(Bilder davon)

deine Identität als Bilder auf Plakaten
am Rand einer Straße, die einmal
stark befahren war;
– die durch keinen Konsum
dieser Welt
(schluck schluck)
wieder zum Leben zu erwecken
ist

Texturen dieser Welt als
Design in deinem Hirn
(Bilder)
Luxus ein Accessoire des
Alterns,
Jugend das Makeup
deiner Inszenierung

Zehntausend Körper
zehntausend stark
Zehntausend nackte Körper
auf der Suche nach Realität
in einer Welt ohne Welt
auf der Suche nach Halt
auf der Suche nach einander
Zehntausend Körper
zehntausend

… der Abend im Westen,
heißt es,
wird kommen als Dämmer der Dekadenz,
„harte Zeiten schaffen harte Menschen
harte Menschen schaffen gute Zeiten
gute Zeiten schaffen weiche Menschen ...“
usw. usw.
„die Jugend liebt heutzutage den Luxus.
Sie hat schlechte Manieren, verachtet die
Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren
Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte ...“
usw. usw.

Historisch gesehen ist es nicht die Form
die überbleibt
also sei vorsichtig, was du feierst
während Dorian Gray sich in deinem Keller
einen runterholt
auf dich
auf sich
auf dich

unser Begriff von Zeit
mag nur eine weitere Flut von Eindrücken sein,
ja,
aber diese Flut ist begrenzt
also sei vorsichtig
worauf du dich fokussierst
auf Dorian Gray
oder sein Bild
oder darauf, dir einen runterzuholen --

die Zentralbanken pumpen Geld in die Wirtschaft
die Wirtschaft pumpt Geld in die Ästhetik
die Ästhetik pumpt Bilder in dein Hirn
bis außer Bildern nur noch was? übrig bleibt –

Vielleicht ist das mehr ein Wegweiser als
eine Frage. Entferne Bilder, soziale Konditionierung,
und biologische Triebe und was bleibt von dir?
Von dem, was du für deine Identität hältst?

In einem theoretischen Nachleben, was würde es
hinter das Ende der Form schaffen? Deine Angst,
dich vor anderen lächerlich zu machen? Mach dich
nicht lächerlich.

Zehntausend Körper würden es nicht schaffen
und wenn zehntausend Körper es nicht schaffen,
welche Chancen hast du?

Es ist eine Frage der Reduzierung,
nicht des Anhäufens. Entferne alles,
was keine proaktive Kraft in und aus
dir selbst ist sondern von anderen
da reingestopft wurde
(biologische Triebe, soziale Konditionierung,
Bilder)
und was bleibt
(heißt es)
bist dann wirklich du:

Reiter der Flatline
zwischen Betäubung
und Stimulation;

in andere Ebenen
als diese.


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