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Johanna Hansen: zugluft der stille

Rezensionen/Lesetipp > Rückschau


Monika Vasik

Johanna Hansen: zugluft der stille / schneeminiaturen. Dortmund (edition offenes feld – BoD) 2020. 96 Seiten. 17,50 Euro.

Einflüsse


zugluft der stille lautet der Titel von Johanna Hansens bereits 2020 veröffentlichtem Lyrikband, der auf dem Cover ohne den Hinweis „Gedichte“ auskommt. Auch im Inneren fehlt dieser. Stattdessen finden wir die Anmerkung schneeminiaturen, die vom Buchtitel mit einem Schrägstrich abgesetzt ist. Schnee sticht auch als eines der am häufigsten vorkommenden Worte dieses Werks heraus. Jüngst stolperte ich über eine aufschlussreiche Bemerkung von Hansen über ihre besondere Beziehung zum Schnee:

„Märzschnee. Im März habe ich Geburtstag. Damals schneite es. Meine Mutter erzählte mir jedes Jahr aufs Neue: als du geboren wurdest, hat es geschneit. Schnee wurde mein Lieblingswort.“

In einem Gedicht ihres Bands wiederum erwähnt Hansen „die vollkommenheit der farbe weiß“. Frisch gefallener Schnee ist reinweiß, und man staunt immer wieder, wie sehr schon ein wenig Schnee Landschaften verändert, sie hell, weich und still erscheinen lässt, was sich auch auf das menschliche Gemüt und auf Stimmungen überträgt. Und so verwundert nicht, dass in den sechs Abschnitten des Buchs neben und mit dem Schnee die Farbe „weiß“ auftaucht, auch in anderen Zusammenhängen, etwa als Schaumkronen auf dem Meer oder als Fellfarbe des mythen-umwobenen Einhorns.

Weiß ist in unseren Breiten ein Symbol für Reinheit und Unschuld. Und Weiß wird sinnbildlich mit jener Leere ver-bunden, die uns in vielerlei Facetten in den schneeminiaturen begegnet. Da ist etwa die vermeintliche Leere, die Unschuld eines neugeborenen Kindes, das die genetische Ausstattung von seinen Eltern mitbringt, aber erst durch Erziehung, Erfahrung und Einsicht oder Auflehnung geprägt, gleichsam beschrieben wird und sich selbst fortschreibt. Oder da ist das leere Blatt, die weiße Leinwand, die zunächst bloß Material und noch völlig stumm sind. Erst durch die Kunst einer Schriftstellerin oder eines Malers, die sich in das Unbeschriebene einschreiben, beginnen sie zu sprechen.

zugluft der stille zeichnet dieses Einschreiben und damit den Werdegang einer Künstlerin nach. Es ist keine fiktive Biografie, sondern die poetische Verdichtung des eigenen Lebens, soweit man das als Unkundige anhand recherchierbaren Materials überprüfen kann. Hansens Zugang ist ein persönlicher, dennoch nie ein privater. Sie erzählt von Mut und Selbstermächtigung, imaginiert die Zeit ihrer Geburt, berichtet von ihrer Kindheit, von Prägungen und Einflüssen und weist ins Heute. Man erkennt schnell, die Gedichte sind von einer Malerin verfasst mit deren Fokus auf visuelle Wahrnehmung und den gezielten Einsatz von Farben, der Grundfarbe Weiß, von Farb-tupfern und Farbcodes. Was auch nicht weiter verwundert, denn Hansen ist, wie so viele, eine Doppelbegabung. Zuerst trat die Malerin an die Öffentlichkeit, die ab 1993 ihre Bilder in Ausstellungen präsentierte und auch den vorliegenden Band mit ein paar Werken ergänzte. Erst ab 2008 hatte sie genug Mut, sich auch als Frau des Worts zu zeigen, als eine, die sich „das silbenfell“ umlegt, wie es in einem Gedicht heißt.

Interessant ist die Chronologie der sechs Kapitel, die keiner Lebenschronologie folgt. Im ersten Kapitel gibt es wohl vereinzelt Erinnerungen an die Kindheit, etwa in Form von Märchen-anklängen an Schneewittchen und Dornröschen, doch Hansen verdichtet auch Liebesbeziehungen und ihre synästhetische Wahrnehmung der Welt. Der Titel dieses Abschnitts, weißes rauschen, wird im dritten Vers des ersten Gedichts aufgegriffen, wo es heißt: „dieses weiße rauschen in den ohren“. Es hat nichts mit Schnee zu tun, sondern ist ein Begriff aus der Akustik. Bei weißem Rauschen, auch White Noise genannt, handelt es sich um ein einförmiges Geräusch, das z.B. eingesetzt wird, um einen Tinnitus zu maskieren, von diesem also abzulenken. Hansen gelingt Ähnliches, sie maskiert, nicht nur in diesem Kapitel, mit Farbcodes und -verschiebungen. Zwei Beispiele: Im Gedicht lockmittel wählt sie den Begriff „schwarze Tulpen“, ein Sinnbild für Leidenschaft und Sinnlichkeit, die gemeinsam mit den ebenfalls geforderten „scheuklappen“ vom Nachklang der Nazizeit abschirmen sollen. „der schwarze Hund“ wiederum gilt als unheil-bringend und ist eine Metapher für Depressionen.

Das zweite Kapitel schwimmschnee führt uns an die Ostseeküste, wo Hansen 2018 eine Residenz im Schriftstellerhaus Ventspils/Lettland innehatte. Thematisch geht es um Natur, um lokale Betrachtungen und die Nähe Russlands. Das Gedicht „azurn“ greift explizit die Sehnsucht nach Buchstaben und Worten auf, ebenso „zeichnen am meer“. Dass in der Chronologie des Buchs die Autor*innenresidenz einen frühen Platz einnimmt, verdeutlicht die innere Wende von einer, die in poetischen Selbstgesprächen ein Leben als Autorin ersehnt und dieses als Ausgezeichnete nun wirklich führt und vor sich rechtfertigen kann.

Das dritte Kapitel überblendungen/endlich schnee sowie das vierte kopfüber/herzunter thematisieren Geburt und Heranwachsen. Es ist eine typische Nachkriegskindheit, wie sie in Variationen bis weit in die 1970er Jahre üblich war, mit dem nationalsozialistischen Nachhall in Köpfen und Herzen der Menschen, mit den Riten und Ritualen der Kirchen, mit den durch den 2. Weltkrieg tief traumatisierten Eltern und den einengenden Erziehungsmethoden, die damals richtig erschienen sind. „sonntags gehörte mir mein eigener mund“, heißt es etwa in einem Gedicht, was auch zeigt, dass Kinder nicht viel zu reden hatten und zum Stillhalten angehalten wurden. In „du bist da“ wiederum ist die Rede von einem „mädchen / weit weg vom / ich“. Es war beinahe unmöglich, in einem solchen Umfeld die eigene künstlerische Stimme und ein Selbstbewusstsein als Frau und Künstlerin zu finden. Aufgeladen werden diese Texte u.a. mit Zeilen aus Kinderliedern und –reimen, einem Zitat von Heinrich Heine sowie Versen aus Kirchenliedern und –gebeten. Thematisiert wird zudem die Lungenerkrankung der Autorin, die sie von klein auf behinderte und einschränkte. Im sechsten und letzten Kapitel davoser schneekugel wird diese „luftkrankheit“ noch einmal thematisiert. Hansen erinnert an Thomas Manns Zauberberg, lässt eigene Kindheitserfahrungen in der kleinen, abgeschlossenen Welt eines Sanatoriums im Kurort Davos atmosphärisch Revue passieren und rundet diese mit kritischen Anmerkungen zur heutigen Dorfentwicklung, fehlenden Investoren und „bausünden“ ab.

Im fünften Kapitel hier. im halbschatten wendet sich Hansen einigen ihr wichtigen Kolleg*innen und Kunstwerken zu. Sie hält poetische Zwiesprache mit Ingeborg Bachmann und Friedrich Hölderlin. Und sie setzt sich mit der Ende des 15. Jahrhunderts in den Niederlanden entstandenen, sechsteiligen Wandteppichserie „Die Dame mit dem Einhorn“ auseinander, die sich heute in einem Pariser Museum befindet. Abgebildet ist eine adelige Frau mit einem Einhorn an ihrer linken Seite und einer Löwin an der rechten, auf einigen ist auch ein Äffchen zu sehen. Sie werden motivisch von Hansen integriert in ihr Gespräch über die Jahrhunderte, bei dem sie die noble Dame mit „madame“ adressiert. Auf fünf dieser Wandteppiche werden die fünf Sinne symbolisch dargestellt. Der sechste und Hauptwerk dieser Serie trägt den Titel „à mon seul désir – dies mein einziges verlangen“, eine Zeile, die auch im titelgebenden Gedicht dieses Zyklus vorkommt. Sie könnte als Leitmotiv für Johanna Hansens Ansinnen gelten, nämlich als Lyrikerin ihrer Sprachsehnsucht folgen zu können.


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