Johanna Domokos: W Punkt
Jan Kuhlbrodt
zu Johanna Domokos: W Punkt
Dieses Buch ist ein kleines Wunder, W Punkt ist ein experimenteller literarischer Text über die Grenzen der Zeit, des Raumes und der Sprachen, heißt es in der Verlagsankündigung. Eine Art Gegenbabylon also. Oder vielleicht ein Beweis dafür, dass der strafende Gott, der eben jene Sprachverwirrung anrichtete, im Kern gut war. Nämlich das, was Missverständnisse in Massen produzierte, führt letztlich auch zu einer Erweiterung des Gesichtskreises, und wahrscheinlich sind wir immer noch damit beschäftigt, die Trümmer wegzuschaffen, die der zusammengebrochene Babylonische Turm hinterlassen hat. Vielleicht auch ist es das, was wir Geschichte nennen, die Bereinigung des Feldes.
Ich bin verwirrt, und komme langsamer voran als gedacht. Trotzdem gelingt es irgendwie, die verschiedenen Szenen, Stimmungen, Zeiten und Orte miteinander zu verbinden. Wenn eine Passage kommt, deren Sprache ich nicht kenne, fühle ich mich befreit, von der Verantwortung entbunden, weiter verstehen und Verknüpfungen herstellen zu müssen. Von mir aus, müsste man vieles gar nicht übersetzen.
Diese Passage findet sich gegen Ende des Buches, dessen Thema vielleicht das Entschlüsseln ist, aber viel mehr noch das Aushalten des Nichtentschlüsselbaren.
Und genau hier liegt das Wunder. Der Text bedient sich vieler Sprachen, von denen mir ein paar bekannt sind (Russisch, Englisch) und eine sogar geläufig (Deutsch), andere wiederum sind mir vollkommen fremd (Samisch, Ungarisch). Aber gerade die fremden, nicht zu entschlüsselnden entwickeln in Typografie und Klang einen enormen Zauber.
Und wie der Text zwischen den Sprachen mäandert, mäandert er auch zwischen den literarischen Gattungen. Man kann ihn natürlich als plotfixierter Leser als Kurzroman lesen, dann ist er ein Science Fiction, der in einer nahen Zukunft spielt, und in dem versucht wird, aus überlieferten Materialien die Identität einer Person zu rekonstruieren. Die Materialien lagern in Archiven irgendeines Überstaates, sind zuweilen nach einem nicht zu durchschauenden System geschwärzt. Was letztlich auf eine viel einschneidendere Form der Unverständlichkeit verweist. Der sprachlichen Fremdheit wird hier eindringlich die politische entgegengestellt, die in ihren Auswirkungen einschneidender ist. Denn sie schwärzt, exterminiert.
Der Text aber hat daneben eben auch lyrische Qualitäten, die zwischen Prosagedícht und Denkbild changieren. Auf der Verlagsseite findet sich zum Download eine Hörversion des Textes, die die Klangqualitäten der Mehrsprachigkeit erfahrbar macht. Und nicht zuletzt liegt in der Gestaltung des Buches durch Gergely Lörincz ein grandioser visueller Effekt.
Die Autorin Demokos hat natürlich aufgrund ihrer siebenbürgischen Herkunft schon das Glück der Vielsprachigkeit zwischen Rumänisch, Ungarisch und Deutsch erfahren. Endsprechend definiert sie sich auch nicht national, sondern als mehrsprachige Autorin mit ungarischen Hintergrund.
Wieder einmal ist dem Verleger Lutz Graner mit seinem kleinen Eichenspinner Verlag ein Geniestreich gelungen.
Johanna Domokos: W Punkt. briefRoman. Chemnitz (Eichenspinner Verlag) 2016. 64 S. 23,45 Euro.