Jörn Birkholz: Batalski
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Jörn Birkholz
Batalski
Neun, sieben, acht, drei, sechs, fünf, acht,
drei, sechs, vier, fünf, eins. Enter. DIESEN ARTIKEL KAUFEN WIR NICHT. Hätte
Batalski sich ja denken können. Das Buch, irgend-ein preisgekrönter
Schwedenkrimi, bringt nichts ein - zu alt. Im Grunde braucht man nur nach dem
Erscheinungsjahr zu schauen. Alles, was älter als ein oder zwei Jahre ist, kann
man vergessen. Oh, was haben wir denn da? Batalski stellt das versiffte
Roßhalde von Hesse zurück in den Schrank, ohne die ISBN überhaupt einzugeben,
und greift sich das guterhaltene - also noch nicht gelesene - Werk „Ein
tödliches Geheimnis – in Blut geschrieben“ von Nele Neuhaus. Grad mal ein Jahr
alt. Er schöpft Hoffnung, hämmert die ISBN ins Handy und tatsächlich: Momox
bietet ihm 2 Euro und 13 Cent. Ab in die digitale Verkaufsbox. Ein sinnloses
Glücksgefühl durchströmt Batalskis Körper, wahrscheinlich ein ähnliches Gefühl,
das einen Spielsüchtigen kurzzeitig überkommt, wenn der Spielautomat mit
fröhlichem Piepen ein paar Eurostücke ausspuckt.
„Na, was dabei?“, kommt es plötzlich von der
Seite. Verdammt, Batalski hat nicht aufgepasst; da ist er wieder, der
zigarrerauchende Fahrradmann mit dem langen Mantel und dem Indiana Jones Hut -
allerdings in schwarz. Batalski glaubte, um diese Zeit, so kurz vor Mittag,
hätte er seine Ruhe. Augenblicklich riecht es nach Raucherkneipe, obwohl sie
draußen, ein paar Meter vom Rhein entfernt, vor diesem überfüllten
Bücherschrank stehen. Der Hutmann schielt skeptisch auf das dicke Neuhaus-Taschenbuch
in Batalskis Hand. Hutmann weiß, dass Batalski nicht zum Stöbern oder Schmökern
herkommt – schon gar nicht in dem „mit Blut geschriebenen Geheimnis“ von Frau
Neuhaus, sondern lediglich um „abzusahnen“. Trotzdem scheint Hutmann Batalski
zu mögen, denn er versucht ständig, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, wobei
Gespräch nicht ganz richtig ist, vielmehr beginnt Hutmann jedesmal einen
Monolog, wenn er Batalski antrifft. Und er trifft ihn oft an, was Batalski ein
bisschen peinlich, aber auch nicht zu ändern ist. Oft sieht Batalski den
Hutmann, wenn er, ebenfalls mit Fahrrad, den Bücherschrank am Rhein ansteuert.
Der schwarze Hut, der Rauch und der Mantel sind nicht zu übersehen. Rasch biegt
Batalski in eine Seitenstraße und wartet dort einen kurzen Moment. Schnell hat
er gelernt, dass der Hutmann sich immer für höchstens drei bis fünf Minuten
beim Bücherschrank aufhält. Einmal konnte er ihn aus sicherer Entfernung sogar
beobachten. Weder stellt der Hutmann etwas hinein, noch nimmt er etwas heraus.
Er sortiert! Hutmann stellt die Bücher ordentlich, soweit das möglich ist,
zusammen, schwingt sich dann wieder auf sein Rad und macht sich auf den Weg zum
nächsten nicht weit entfernten Bücherschrank an der Mainzer Volkshochschule.
Von dort geht’s dann zum dritten und letzten Bücherschrank, dem in der Mainzer
Neustadt. Woher Batalski das weiß: weil er selbst diese drei Schränke aufsucht,
um seiner kleinen Nebenbeschäftigung nachzugehen. Diese drei Schränke liegen alle
verhältnismäßig nah beieinander. Mit dem Rad braucht er höchstens zwei bis drei
Minuten von Schrank zu Schrank. Nach kürzester Zeit hat er sogar Hutmanns
bevorzugte Zeiten mitbekommen. Hutmann dreht seine erste Runde recht früh
morgens, dann eine zweite am frühen Nachmittag und er beendet den Tag mit einer
letzten Runde am frühen Abend. Batalski weiß das alles so genau, weil er genau
zwischen diesen Schränken wohnt, und er bemerkte den rauchenden Hutmann bereits,
bevor Batalski selbst überhaupt auf diese Schränke aufmerksam wurde.
„Neuhaus?“, kommt es jetzt leicht angewidert aus
dem Hutmann heraus. Sowas ge-schieht selten, oder fast nie, dass er Batalski
direkt anspricht.
„Ich brauche ein Geschenk für meine Mutter“,
lügt Batalski, „und es ist gut erhalten“, beendet er den Satz mit der Wahrheit.
„Ja viele ältere Leute mögen sowas wohl“,
entgegnet der Hutmann und beginnt sogleich damit, den Schrank aufzuräumen. Ob
Hutmann ahnt, dass das meiste Chaos von Batalski angerichtet wurde. Tatsächlich
ist Batalski immer recht hektisch und ungeduldig, wenn er sich dem Inhalt
dieser Schränke widmet, und er schmeißt die "wertlosen" Bücher
einfach oben auf die anderen Bücher rauf. Zeit ist schließlich Geld. Während
der Hutmann sortiert, stellt Batalski „Das tödliche Geheimnis“ zurück ins
Regal, nach dem Motto, vielleicht ist es ja doch nicht das richtige Geschenk
für seine liebe Mama. Was ohnehin egal ist, da Batalskis Mutter in ihrem Leben
nie Bücher gelesen hat, seit fünf Jahren tot ist, und er das Ding, sobald
Hutmann weg ist, sofort wieder aus dem Schrank fischen wird. Zudem schielt er
auf einen relativ neuen, gebundenen und guterhaltenen, aber tatsächlich
grottenschlechten Suter-Roman und kann es kaum erwarten, dass der Ordnungsfreak
mit seiner Aufräumaktion fertig wird und zum Schrank an der Volkshochschule
oder in der Neustadt verschwindet. Batalski befürchtet, dass der Hutmann sich
extra Zeit lässt, weil er den „Plausch“ mit ihm, warum auch immer, anregend
findet. Plötzlich gesellt sich eine ältere Frau zu ihnen, beziehungsweise
zwängt sich zwischen die beiden durch und stellt irgendein abgegrabbeltes
Kochbuch und Frank Schirrmachers – "Das Methusalem Komplott" –
umständlich in den Schrank. Wenn sie gleich weg ist, wird Batalski sich auf die
Schirrmacher-ISBN stürzen. Sofort rückt der rauchende Hutmann die beiden
Neuankömmlinge gerade ins Regal, die die alte Dame schluderig reingestellt
hatte. Die alte Dame verschwindet wieder, nachdem sie kurzzeitig die Neuhaus so
halb aus dem Regal zog – Batalski blieb fast das Herz stehen – aber gleich
darauf wieder zurückschob. Sie fühlte sich sichtlich unwohl zwischen den beiden
Herren, und der penetrante Zigarrenrauch tat sein Übriges. Batalski starrt
weiterhin auf Suter.
„Kennen Sie eigentlich den Kollegen mit dem
tiefergelegten Fahrrad?“
„Bitte?“, fragt Batalski.
„Na, der mit dem tiefergelegten Fahrrad? Der hat
son Pferdeschwanz und fährt immer zwischen den Schränken hin und her.“
„Ach der“, sagt Batalski, obwohl er keine Ahnung
hat, um wen es geht.
„Ja der, der macht das seit 2010, solange
beobachte ich den schon. Also im Grunde, solange diese öffentlichen
Bücherschränke hier überhaupt stehen.“
„Aha“, erwidert Batalski und starrt weiter auf
Suter und den schon verstorbenen Schirrmacher.
„Ja, der lebt davon! Der hat sein ganzes Leben
nie gearbeitet, bezieht Bürgergeld und fährt den ganzen Tag hin und her und
sucht die Schnäppchen. Ich beobachte den schon lange, wissen Sie?“
„Aha.“
„Der nimmt hier so n paar Schrottbücher raus,
dazu die, die ein bisschen was wert sind und fährt dann zum nächsten Schrank
und stellt die Schrottbücher da wieder rein. Verstehen Sie, was ich meine?“
„Ja, ja.“
„Hab ich alles beobachtet. Damit die Leute nicht
denken, dass er nur nimmt. So stellt er den Dreck wieder rein und die Guten
behält er natürlich. Und dann fährt er zum nächsten Schrank. Verstehen Sie, was
ich meine?“
„Ja, ja.“
„Der Kreislauf im Schränkedreieck“, lacht er
jetzt rauchausstoßend.
Batalski grinst ihn dümmlich an.
„Der ist auch ziemlich aggressiv und duldet
keine Konkurrenz.“
Der Hutmann blickt ihn jetzt ganz spitzbübisch
an und pafft an seiner Zigarre. Batalski wird ein bisschen schlecht. Aber er
kann nicht gehen, nicht ohne seine Ausbeute.
„Der wohnte bis vor kurzem noch bei seiner
Mutter. Die ist jetzt wohl auch schon seit zwei Jahren tot. Und so dreht der
seine Runden, Wie gesagt, seit 2010! Ich kenne seine Zeiten ganz gut. Die erste
Tour macht er gleich ganz früh morgens, um alles, was spätabends noch
reingestellt wurde, abzugreifen? Viele machen grad hier am Rhein noch
Abendspaziergänge und stellen dann gerne noch die Bücher rein. Da hinten wohnen
doch die ganzen Bessersituierten. Er weist zu irgendwelchen stylischen
Neubauten hin. „Die Leute stellen dann die neuen teuren Bücher da rein, die sie
kurz vorher zum Geburtstag oder zu sonst was bekommen haben– irgendwelche
Optimierungsratgeber oder Bücher über Beschneidungs-schicksale im Sudan”, lacht
er, ”und die sie sowieso nicht lesen werden. Abgesehen davon, reiche Leute lesen
ja nicht.”
Arme Leute auch nicht, denkt Batalskis.
“Aber diese Bücher bringen noch was ein, und
dann kommt morgens ganz früh der Kollege und holt alles raus. Seine zweite Tour
macht er dann nachmittags und die letzte am frühen Abend.“
„Aha.“
„Ja, ein ganz unangenehmer Typ ist das“, beendet
der Hutmann seinen Monolog, während er weiterhin damit beschäftigt ist, die
Bücher ordentlich in Reih und Glied zu stellen. Batalski verkneift sich zu
husten, der Rauch ist langsam unerträglich.
„Also dann, noch viel Erfolg beim Suchen“,
verkündet der Hutmann plötzlich, schwingt sich auf sein Rad und verschwindet.
Der Zigarrengeruch bleibt zurück, und das sogar unverhältnismäßig lange.
Nachdem er weg ist, greift sich Batalski sofort den Suter-Roman, mit dem
kindischen Titel „Der rosa Elefant“, 1,51 Euro. Stabil. Dann wird noch der
Schirrmacher gecheckt, der nichts einbringt. Vielleicht hat die alte Dame es
vorher geprüft, aber wahrscheinlich eher nicht. Omis sind da nicht so. Das Teil
ist von 2004, daher für momox komplett wertlos. Dennoch, zusammen mit einem
alten Sartre-Taschenbuch „Mai` 68 und die Folgen“ (0,15 Euro) hat Batalski
immerhin eine Ausbeute von insgesamt 3,79 Euro. Mal sehen, was der Schrank an
der Volkshochschule gleich zu bieten hat. Allerdings sollte er noch ein
bisschen warten, bis sein rauchender Freund dort aufgeräumt hat. Aber
vielleicht auch lieber nicht zu lange, bald ist es drei, und Batalskis
schärfster Konkurrent könnte schon mit dem tiefergelegten Fahrrad auf dem Weg
hierher sein. Das ist Batalski langsam alles zu aufregend, er sollte sich einen
neuen Job suchen. Er steigt auf sein Fahrrad und macht, dass er verschwindet.
Die Luft riecht immer noch nach Zigarre.