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Jörg Schieke: Antiphonia

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Kristian Kühn

Eine wahre Geschichte


In seinem 10. Totengespräch lässt Lukian von Samosata, der große Satiriker aus der Spätantike, den Fährmann Charon zu Beginn der Fahrt sagen: „Hört mal alle her, ich will euch die Lage erklären. Der Nachen ist, wie ihr seht, klein und baufällig, und lässt ziemlich Wasser ein; wenn er sich stark auf eine Seite legt, kippt er um, und weg ist er. Nun sind wir so viele auf einmal angekommen, und ein jeder bringt so viel Gepäck mit, dass mir angst wird; wenn ihr mit alledem einsteigen wollt, könnt’s euch hintendrein leid tun, insbesondere soweit ihr nicht schwimmen könnt.“
    Die Toten fragen: „Was sollen wir also tun, um eine gute Fahrt zu haben?“
    Charon, der Fährmann in den Hades, antwortet: „Das will ich euch sagen. Ihr müsst alle diese unnötigen Sachen auf dem Ufer zurücklassen und nackend einsteigen; denn auch so wird euch meine Fähre kaum alle fassen können.“
    Gesagt, getan. Und der Reiche sagt: „Schau her, mein Reichtum, da liegt er!“ Doch Hermes, der Seelenführer, ist noch nicht zufrieden. Der Reiche soll auch seine Aufgeblasenheit wegwerfen. Am Ende machen sich dann alle auf die Reise, um auf der anderen Seite gerichtet zu werden.

An diesen kurzen Lukian-Dialog erinnerte ich mich, als ich Jörg Schiekes „Antiphonia“ zu lesen begann und auf Seite 15 auf die Aussage stieß:

– der Reiher wollte gut Freund sein, nur schwanden ihm allmählich
die Kräfte. Mom rief: „Wir müssen Ballast abwerfen!“
Dad rief: „Wirf ab die Wertsachentüte, wirf ab den Fingerring!
Wirf ab die Angst vor den Autoritäten und ihrem

Scheißdreck! Wirf ab die Ich-änder-mich-Pläne, wirf ab
die Ratgeberbroschüren mit all ihrer Grütze!“ Die Mom
steckte sich Wattebäusche zwischen die affenordinär langen
Zehen und lackierte sich erst mal die Nägel. Ein Kunststück.

Auch „Eine wahre Geschichte“ ist ein parodistischer Reisebericht des Lukian und zugleich die früheste bekannte literarische Darstellung jenseits von Zeit und Raum, eine Reise durch das All von Vorstellungen, Eindrücken, die prägen und tätowieren. Es mag sein, dass bei Schieke es sich weniger um den Weltraum der Erinnerungen handelt, wie Jan Kuhlbrodt es in seinem Nachwort (“Madame Gabel liebt das Wiedererkennen“) andeutet, als vielmehr um ein langsames Aufgeben der Menschen ihrem Ende zu. Im 7. Kapitel sind die Protagonisten nach eigenen Angaben mitte-ende 50. Aber das besagt nichts. Im achten Kapitel, der letzten Gegenstrophe dieses Chors kleiner Erlebnisse und großer innerer Echos, sind sie zugleich wieder jung. In Japan befanden sie sich (und auch wieder nicht) und liefen

in Judoanzügen ins Meer und übten die Würfe. Nässe
schlug um in Schwere, die umschlug in Schmerz. Schmerz
wird zum Glück betäubt von der Kälte. Die Ostsee
bei Usedom ist ständig am Fressen. Und weil sie pausenlos frisst,

muss sie auch immer verdauen. Sinkstoffe ziehen
mit der Strömung, und einmal zwischen Tsukuri
und Niederwurf, streifte mich eine Qualle. Eine Masse
aus trägem, ekligem Glibber, aus weichem Gelee.

Und dann der Abschied, er folgt im fahrenden Zug:

            (…) Ringsum feiern die Lärmverursacher
und Dilettanten. Sie haben mir das Antiphon
abgejagt. Sie – das sind die aus Horns Erben*, die
immer so fortschrittlich tun. Die mit den Hüften wackeln
         
wie andere mit den Ohren. Ich bog die eine Hälfte des Zuges, exakt
bis zur Mitropa, nach oben. Wenn man mir nur ein Mal
zuhören würde. Der vordere Teil (wie ein nach einem Gewaltakt
im rechten Winkel zum Resonanzkörper stehender

Gitarrenhals) wies in den Himmel. Ich kroch von Abteil
zu Abteil. Im Schlafwagen klopfte ich gar nicht erst
an die Türen, sondern rief leise die Namen
derjenigen, die ich hinter diesen Türen

vermutete. Ich musste bei zweihundert Kilometern
pro Stunde ein Lazarett einrichten. (…)
      
Mit Schiekes Antiphonia geschieht alles zugleich, Flucht, Abschied, Sterben – sie handelt von Familie, Reise- oder Fluchtgesellschaft, Weltgemeinschaft. Ortswechsel, Zeitwechsel, Identitäts-wechsel sind gratis und immer dabei – erst ein Mann, dann auch als Frau angesprochen, ein mit Karacho am Ende schwindendes Ich:

                                  (…) Vor mir brennen die Gleise
wie in die Landschaft gelegte Zündschnüre. Ob ich
die Halterin des Antiphons sei, will ein Herr in Uniform
von mir wissen. Jetzt muss es schnell gehen.

Lebensabend und Abschied kommen gleichzeitig und wie alle Eindrücke gratis (fast im Gleichmut). Denn

                             (…) Siegen durch Nachgeben
ist ein tolles Prinzip, und es eignet sich ganz speziell

für die Starken. Ich verplombe die Waggons nun
auf meine Art. Wer nicht für den Aufstand und die Stille
eintritt wird wegadoptiert. Befragung, Entmündigung, ab
zur neuen Familie. Proteste in den Papierkorb.

Am Ende des vom Poetenladen Verlag herausgegeben Bands, ein paar Angaben zu benutzten Zitaten. Eins davon führt ins Zentrum aller Satire, trotz des Ernstes, es ist von Jürgen Ploog:

„Auch wenn ich weiß, wo ich bin, täuschen die Sinne. Sie sind die am wenigsten zuverlässigen Orientierungsmittel. Geografische Ikonen helfen schon eher. Ein Lächeln oder ein Augenzwinkern kann untertags einen Menschenauflauf auslösen.“

Es mag sein, dass es sich bei Schieke weniger als bei Lukian um Parodie und Soziogramm des menschlichen Hades handelt, dem Ende entgegen und aufs innere Gericht zu. Und es bleibt auch unklar, ob sich die Rollen-Ichs noch in der DDR befinden oder zu einer anderen Zeit irgendwohin bewegen oder im Hier und Jetzt entgleisen. Ihr Leben ist eine innerlich wahre Alltagsgeschichte mit psychisch greifbaren Eindrücken. Deshalb könnte man auch sagen, die Akteure reisen von außen nach innen. Gleichzeitig vielleicht aber auch umgekehrt, weil sie sich der Enge ihrer Verhältnisse bewusst werden und diese möglicherweise sprengen wollen.

„Sie veröffentlichen ein Kind“ ist das Motto dieses Gegengesangs zu den empfundenen Verhältnissen, als Aussage für eine Geburt, zunächst eine Kindsgeburt, Richard, Spross, mittler-weile acht Jahre alt  – aber auch einer Text- bzw. Sprachgeburt, sozusagen der eigenen Kinds-geburt, der Wiedergeburt des Vaters der Gedanken als schreibendes Kind. Eine Antiphonie, innerhalb und außerhalb des liturgisch verordneten Rahmens, der sich Gedicht nennt, Gegengedicht sozusagen, um eine anschwellende Litanei des Alltags vieler Stimmen und Töne, eine Möbiusschleife von Beobachtungen, Gefühlen, Verletzungen. Ein immerwährender viel-stimmiger Zustandsbericht.

Insofern es sich um eine Seelenreise handelt, kann ich Kuhlbrodt durchaus zustimmen, der in seinem Nachwort von einem Epos spricht. Allerdings einer Kindsgeburt von Epos, dem recht eigentlich das Ziel fehlt, auch der zugrunde liegende Mythos. Es sei denn, der Tod, die Trennung von einem Zustand in den anderen, also eine Metamorphose als Idee allein sei bereits ein Mythos. Wenn ja, dann ein Privatmythos. Kuhlbrodt sagt, es handle sich um eine große Form bei Schieke. Ich würde dem widersprechen: Im Gegenteil, die Endlosschleife des Antiphon ist – wie jede Litanei – lang, aber bei Schieke handelt es sich gerade um das bewusste Aushebeln dieser großen Form, ähnlich wie bei Lukian, um Sarkasmus, innere Ermüdung, um eine Zeitenwende bzw. Wandlung ins „Vergessen“ hinein, natürlich als Vorwurf zu verstehen, aber das Gegenteil von telos im Sinne einer aristotelischen Entelechie. Das Gemeinsame, nicht nur „Familie“ als Gruppenbewegung, ist hier das Ziel.

Das beginnt mit der Sprache und endet in einer Art, wie der Titel schon sagt, Gegensprache in Form von Privat- oder  Gegenlogik.

Derweil die Sprache nur an wenigen Stellen, zumeist bei Flucht und drohender Wandlung, diesen höheren Tonschlag bekommt, den Kuhlbrodt dem Autor nachsagt, eigentlich wird sie dann nur metrischer, nie pathetisch oder schwülstig, wohl aber spielt Schieke an diesen Stellen bewusst assoziativ mit expressionistischen Motiven, ist sie im Wesentlichen eher flapsig, parodiert Alltags- und Szene-Sprech und ist voller Gedankensprünge, indem sie mit Mitteln der Umkehr und Konversion von Gegensätzen arbeitet:

                                         (…) Buddha auf seinem Hügel
über der Gischt, die ihn auszehrt. Wenn Steff ein Wort nicht
verstand, fragte sie ihren Vater: „Papa, was heißt irrational? Was
ist mit überbordend gemeint, was mit erhaben?“ Papa erklärt,
und Heiner tupft sich Baumwollinseln in seine allergischen

Meere. Erhaben geht besser zu merken als irrational. Über-
bordend bedeutet, dass etwas über den Rand
des dafür vorgesehenen Kästchens hinausschießt, Freude,
Gier, Wasser- und Lichtmassen, Widerspruchsgeist (…)

Schiekes Poesie, oder sagen wir, sein Widerspruchsgeist, basiert dabei vor allem auf Kontra-diktionen, die auf Metaphern fußen, die aus landläufiger Logik findige Unlogik machen:

                                                              (…) Die Pubertät
               
der Kinder ist eine Antenne aus Holz für die Einsamkeit
ihrer Eltern. Antenne im Sinne von verkehrt herum
ausgerichtetem Blitzableiter. Antenne aus Holz oder
Im Polizeigriff der Worte – so hießen die lustig gemeinten
Ratgeberbroschüren in dieser Zeit. Einer Zeit,
von der man dann nichts mehr gehört hat.

Eigentlich ist dem nichts hinzuzufügen. Immer wieder pflichtet Schieke Aussagen zu seinem Stil und zu seiner Absicht in den Textfluss ein:

                                                                    (…) Dieses Gedicht
handelt vom Niedergang einer Familie. Jede Sekunde
in diesem Gedicht beruht auf einer wahren Begebenheit. (…)

Und dann:

(...) Dieser Mann hatte den Ehrgeiz,

ein ganz Ehrgeizloser zu werden. Kopfmensch
made by Schwanzmensch. Bislang war unsere Mum, Mam oder Mim
nur mit Rockern zum Aufpusten zusammen gewesen. Daran
ihre viereinhalb Mütchen zu kühlen. In Saftladenhausen
Kaninchen-Yoga zu treiben. Dieser Mann (Dad)
liebte seine Andrea (Mom) und veröffentlichte
mit ihr drei Kinder. Heiner, Stefanie und Katarina, Kat
mit den schön vertrödelten Zöpfen. (…)

Dass man bei Schieke   – wie ja auch bei Lukian, vielleicht aber doch weniger als bei Lukian – nur schmunzeln und nicht über sich selbst lachen kann, liegt an der schon oben erwähnten Überbordung von Gedanken und deren Sprunghaftigkeit, sowie an seiner Liebe zur Gegenlogik, die auch an das Groteske reicht:

                                    (…) Heiner schlief acht Stunden
pro Nacht in Etappen von jeweils sieben Minuten. Die spontanen
Feten sind immer die schönsten. Heiner, um sich zu wehren,
     
hatte Das Antiphon erfunden. Vom Design her eine Kreuzung
aus Satilletienschüssel und Grabstein. Rund um die Uhr
überall einsetzbar.

Und wie ein Antiphon funktionieren kann? Na ja, im Spaß nur halb:

                          (…) Dennoch zeige ich ihnen, wie man
einen Brückentag so geschickt faltet, dass er in einen
Briefumschlag passt. (…)

Schiekes Arbeit ist weder Gedicht noch Roman, sondern ein Hybrid-Text, eine Konversion (im Kuhlbrodt’schen Sinne) voller Gelassenheit und damit Humor, aber auch voller Liebe zum Mitmenschen und in Trauer, Mitgefühl, wenn es eng wird. Gewissermaßen ein (buddhistischer) Text mit Teilnahme im Dauerfluss.
 
*  Für Wessis: Kulturlokal gleichen Namens in Leipzig.


Jörg Schieke: Antiphonia. Gedicht. Hrsg. von Jan Kuhlbrodt, Jayne-Ann Igel und Ralph Lindner. Leipzig (poetenladen Verlag) 2018. 78 Seiten. 18,80 Euro.
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