Jörg Neugebauer: Kunst und Leidenschaft
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Kunst und Leidenschaft
Zu Nietzsches Begriffspaar apollinisch/dionysisch
von Jörg Neugebauer
In einem seiner frühen Texte, der
"Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik", führt Nietzsche das Begriffspaar apollinisch/dionysisch in
das philosophische Denken ein. Das Apollinische und das Dionysische sind die
zwei entgegengesetzten Kräfte im Menschen, ja, für Nietzsche geht diese
Unterscheidung noch über die Sphäre des Menschen hinaus. Aber bleiben wir mal
bei uns selbst, bei uns Menschen, und lassen uns inspirieren von Nietzsche, um
auf eigene Gedanken zu kommen.
Das Apollinische steht für
Struktur, Ordnung, Kunst, für "Gestalt" im weitesten Sinne, für das
im Sichtbaren Identifizierbare. Das Apollinische bleibt immer im Hellen. Das
Dionysische steht für Chaos, ungebändigte Triebe und Wildheit, für das Dunkle
in uns, das Gestaltlose, das zugleich ständig zur Gestaltung drängt. Beides
gilt es zu leben.
Apollinisch ist die lineare Zeit,
sind die Termine, die man beachtet und einhält, apollinisch ist auch die
Individuation, der jeweilige Mensch in seiner Identität, wie er sie versteht
und wie andere ihn sehen. Dionysisch ist die Zeit in der Vertikalen, ist das
Loslassen der Identität, das euphorische Sich-Überlassen an spontane Erregung,
ohne zu wissen oder wissen zu wollen, wohin sie führt. Insofern ist auch
Leidenschaft etwas Dionysisches, sie ist nicht an die Person gebunden, die man
ist oder als die man sich sieht.
Apollinisch ist bewußtes Formen
und Gestalten, dionysisch bewusst-loses sich Hingeben ans Schöpferische, im
Geistigen ebenso wie im Sexuellen - die von der abendländischen Meta-physik
aufgerichtete Schranke zwischen beiden
Bereichen betrachtet man besser als nicht existent. Dem Dionysisches ist etwas,
ja ziemlich viel Rauschhaftes eigen, dem Apollinischen hingegen die nüchterne
Klarheit.
Insofern und nicht zuletzt ist
das Apollinische auch eine Ausgestaltung des Lebens, es existiert nur
solange man lebt, danach ist es ohne Bedeutung, außer in Statuen und
Werken, die man vielleicht hinterlässt. Das Dionysische hingegen existiert als Schwingung
weiter, auch wenn die individualisierte Gestalt nicht mehr besteht. Leben und
Tod sind, dionysisch betrachtet, keine absolut getrennten Bereiche. Die Zeit,
wie oben gesagt, ist für das Dionysische vertikal, alles ist zu jedem Zeitpunkt
in gleicher Weise präsent. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft sind nur
apollinische Ordnungsprinzipien, im dionysischen Sinne sind sie nichts.
Nicht einfach, sich das zu
vergegenwärtigen, denn unsere apollinisch geprägte Grammatik will uns stets
etwas anderes sagen. In der Leidenschaft können wir die Grammatik vergessen und
Leben und Tod spüren als eins. Im Schaffen des Kunstwerks, eines Gedichts
beispielsweise, muss ebenfalls beides vorhanden und wirksam sein. Apollinisch
ist das Kunstwerk als fertig gestaltetes Produkt, das andere anschauen und an
dem sie sich erfreuen oder sonst sich damit auseinandersetzen können. Das rein
Dionysische allein vermag nichts gestalthaft Bleibendes zu erschaffen. Das
Apollinische ist demgegenüber stets zielgerichtet und zweckhaft. Beide Kräfte
sind gleich wichtig, damit das Leben gelingt.
Das Dionysische ist auch das
Offene, die Kraft, die sich offenbaren will. Das Herausgehen aus sich selbst
und das - innere wie äußere - Unterwegssein. Indem es sich zeigt, ist es
"da". Es "bleibt" aber nicht, es sei denn als apollinische
Form und Gestalt. Das Dionysische erneuert sich immer wieder, entsteht immer
neu, immer anders und ist als Kraft doch immer dieselbe. Wie es keine lineare
Zeit kennt, kennt es auch keine "Identität", letztere ist eine
Erscheinungsform des Apollinischen. Die "unsterbliche individuelle
Seele" ist eine apollinische Verabsolutierung unter Ausschluss des
Dionysischen. Ein apollinischer Traum, doch zugleich ein Wahn, weil darin das
Dionysische fehlt (das aus diesem "Wahn" heraus dann
"verteufelt" wird).
Apollinisch ist auch die
Körperscham, in der sich das unbekleidete Individuum seiner Identität bewusst
ist und sich "geniert", sich unverhüllt als diese bestimmte Person zu
zeigen. Dionysisch ist die Nacktheit, die sich ihrer nicht schämt. Im nackten
Körper zeigt sich hier nicht ein bestimmtes Individuum, sondern er ist - wie
eine im Meer aufschäumende Welle - die vorübergehende Erscheinungsform einer
Schwingung. Das ist vom Körperkult zu unterscheiden, wie wir ihn gegenwärtig in
unserer Gesellschaft erleben. Dort zeigen sich Individuen in ihrer
Körperlichkeit, das hat nichts "Offenes", sondern gehört ins Reich
der Berechnung und des Narzissmus, der eine (Über-)Steigerung der apollinischen
Individuation darstellt. Nacktheit ist also nicht gleich Nacktheit. Ebenso wie
berechnend zur Schau gestellte Leidenschaft nichts mit der dionysischen
Leidenschaft gemeinsam hat, die ganz von innen kommt und bis nach außen hin
schwingt. Um sich, im Idealfall, mit anderen Schwingungen zu vereinen. Nicht um
vereint zu bleiben, sondern um sich wieder neu zu bilden, in unterschiedlicher
Intensität, in unterschiedlichen Erscheinungsformen.
Das Dionysische ist also das sich
Offenbarende. Das "Hier bin ich!" sagt, ohne damit ein bestimmtes Ich
zu meinen. Das Apollinische ist demgegenüber das Fertiggestellte, das durchaus
sich selber meint. Es kann dabei auch im dionysischen Gewand auftreten,
gleichsam verkleidet, so macht es mehr von sich her, wirkt "irgendwie
wild", und doch ist alles berechnet. Niemand kann ständig im dionysischen
Modus leben, sonst "geht man kaputt".
Im Bereich des Künstlerischen ist
es die apollinische Form, die das Dionysische immer wieder zur Ruhe bringt.
Vorübergehend, damit es sich nicht verausgabt. Damit es überhaupt Form und
Gestalt annehmen und von außen wahrnehmbar werden kann. Apollinisch ist die
wohlüberlegte geordnete Rede, von der Vernunft gesteuert und kontrolliert.
Dabei bleibt vieles verborgen und kommt gar nicht zur Sprache, weil das
Bewusstsein des sprechenden Individuums alles unterdrückt, was dem Bild nicht
entspricht, das die Person von sich hat und nach außen vermitteln will.
Dionysisch ist die unmittelbare
Gefühlsäußerung, der Lust- und Jubelschrei, der aus Tiefen kommt, die das
Individuelle nicht kennt. Doch es ist klar: Wir können nicht ständig nur so
kommunizieren. Das Gedicht hat wohl etwas von Beidem: In Rhythmus und
Klang tritt das Dionysische zutage, dem Apollinischen gehört die Klarheit an,
mit der etwas formuliert wird, Klarheit des Ausdrucks, Grammatik, äußere
Ordnung. In der Bildlichkeit vermischt sich wohl beides: Um sprachliche
Bilder hervorzubringen, müssen sie aus dionysischer Tiefe heraufgeholt werden,
aus dem Bereich des Un- oder bloß halbwegs Bewussten. Ihre Tauglichkeit,
"gesehen" zu werden, wenn jemand das Gedicht hört oder liest, ist
wiederum eine apollinische Qualität. Denn das Dionysische drängt zwar zur
Offenbarung, bliebe aber gestaltlos und dunkel ohne das Apollinische. Damit das
Dionysische also den Leser oder Hörer erreicht, bedarf es der apollinischen
Form, sonst wirkte es nur verstörend. Und nicht nur das - das Dionysische
allein kann auch zerstörend wirken, wenn es keine Form findet, in der
es, zumindest vorübergehend, Gestalt annehmen kann.
Im Apollinischen ist also auch so
etwas wie Ruhe. Ein Zur-Ruhe-Gekommensein. Bleibt es dabei, wird es Stillstand.
Dionysisch ist die Bewegung, das Laute, die Äußerung, die "nicht
passt" und als peinlich empfunden wird von denen, die sie vernehmen. Ein
Lachen etwa, wo sonst niemand lacht. Das Apollinische reißt sich immer
zusammen, zeigt "Haltung". Der dazu passende Begriff lautet
"korrekt". Es will "bloß nicht auffallen", allenfalls
positiv. Es achtet auf gutes Aussehen, ohne viel Extravaganz. Wichtig ist ihm,
dass es gefällt. Humor und sonstige Zwischentöne sind ihm suspekt. Dem
Dionysischen ist es egal, wie es von außen wahrgenommen wird. Eigentlich gibt
es für das Dionysische gar kein außen. Das heißt aber auch: Es ist angreifbar
und kann leicht von äußeren Kräften zerstört werden. Das macht aber nichts,
denn es entsteht gleich wieder neu.
Von Jörg Neugebauer erschien u.a.
2017 "Wien. Nacht. Nach Motiven aus der Biografie Freuds."
Salonliteraturverlag München.