Jörg Neugebauer: 100 Jahre Zauberberg
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100
Jahre Zauberberg
von Jörg
Neugebauer
Vor gut
einem Jahrhundert, im November 1924, erschien mit dem Zauberberg der
vielleicht beste deutschsprachige Roman der letzten einhundert Jahre, der beste
noch vor Günter Grass' Blechtrommel, die 1959 herauskam. Beide Verfasser
wurden mit dem Nobelpreis bedacht, Thomas Mann für sein geniales Erstlingswerk Buddenbrooks
und Grass für die Blechtrommel. Während Grass in seinen sonstigen,
späteren Publikationen nie wieder das Niveau der Blechtrommel erreichte,
schuf Thomas Mann einige weitere sehr bedeutende Werke. Zu diesen zählt auch
der Zauberberg.
Ja, wer
oder was wird da verzaubert? Oder geht es um einen Berg, der Zauberkräfte
besitzt? Letzteres trifft auf jeden Fall zu, allerdings nicht im Sinne eines
romantischen Märchens. In diesem Roman geht es auf über 1000 Buchseiten höchst
realistisch zu. Der Zauberberg ist eine Lungenheilanstalt im schweizerischen
Davos, in die der junge, 23jährige Hans Castorp aus Hamburg besuchsweise
hineingerät. Er will, nach soeben beendetem Ingenieursstudium, dort für drei
Wochen seinen Vetter Joachim besuchen, der lungenkrank ist und im Sanatorium Berghof
Heilung sucht. Für drei Wochen! Am Ende werden sieben Jahre daraus, in denen
der junge Hans im Zauberberg gleichsam feststeckt. Er kommt der Welt regelrecht
abhanden, jener Welt des Nützlichkeitsdenkens und des Erfolgsstrebens, der er
entstammt, und auch seine eher konservativ geprägten Moralbegriffe erfahren
eine durchgreifende Wandlung. Die ihm anfangs tief eingeprägte Hochschätzung
von Eigentum und Besitz weicht zusehends einer "wilden und weichen
Selbstverständlichkeit des Gebens und Nehmens". Aus dem eher
durchschnittlich erscheinenden jungen Mann wird ein veritabler Freigeist, der
gewillt ist, sein Leben nach eigenen Maßstäben zu leben. Das liegt nicht
zuletzt an der Sphäre, die ihn dort oben umgibt, also daran, dass, wie es im
Text heißt, "gerade das Mittlere und Gemäßigte hier ortsfremd und nur die
Wahl zwischen Extremen gegeben" ist.
Auf dem
Zauberberg ist der Tod allgegenwärtig. Alle, die dort sind, sind akut von ihm
bedroht und müssen mit ihm leben wie mit einem Hausgenossen - ungeachtet ihres
Alters, viele sind noch sehr jung. Und sie müssen nicht nur mit ihm leben,
nicht wenige müssen sich ihm auch ergeben. Insofern ist der Zauberberg auch
ein Buch über den Tod oder besser: über den Umgang mit ihm.
Zugleich
ist alles, bis hinein in den Stil, in dem der Roman geschrieben ist, von einem
- ganz wörtlich gemeint - tiefen Unernst erfüllt. Was erzählt wird und wie, ist
oft auf subtile Art lustig, sodass der Leser laut auflachen muss, ohne die
Todesverfallenheit des ganzen Szenarios auch nur eine Sekunde lang zu
vergessen. Es gibt wenig wirklich Düsteres in diesem langen Prosatext, und
ebensowenig etwas, das man einfach nur unbeschwert heiter nennen könnte. Der
Zauberberg zeichnet eine Gemütswelt jenseits von schwarz oder weiß - allem
Freudigen ist auch die Trauer oder die Bereitschaft zur Trauer beigemengt, und
keine Leidenschaft ist hier ganz frei von Schmerz. Der Autor zwingt den Leser
geradezu, diese Gegensätze auszuhalten. Wer dazu nicht bereit oder aufgelegt
ist, wird das Buch bald aus der Hand legen und sich kopfschüttelnd einem
Gut-und-Böse-Roman zuwenden, in dem alles eindeutig ist.
Der
Zauberberg ist auch ein Roman über die Zeit. Ebenso könnte man sagen: über die
Zeitlosigkeit. Die Bewohner des Sanatoriums Berghof wissen nicht, wie
lange sie noch zu leben haben, alles kann sehr schnell vorbei sein. Für sie
existiert keine "Lebenszeit", die vor einem liegt und die sich in der
Vorstellung ins Unermessliche dehnt. Zugleich ist bei vielen von ihnen das
Gefühl allgegenwärtig, die wahre, die richtige Zeit zu versäumen, indem man
ständig Liegekuren macht, während drunten im Flachland das eigentliche Leben
von statten geht. Und schließlich ist auch das Zeitgefühl oben im Hochgebirge
ein gänzlich anderes. "Die kleinste Zeiteinheit ist hier der Monat",
wird einmal gesagt. Die Zeit verfliegt geradezu. Ist es das Los der Gesunden
drunten im Flachland, ständig keine Zeit zu haben, so hat man hier oben viel
zuviel Zeit, man muss ja nichts tun außer liegen, regelmäßig viel nahrhafte
Nahrung zu sich nehmen, zweimal am Tag spazierengehen und schlafen. Zeit ist so
im Überfluss vorhanden, dass sie wertlos wird und schließlich als Messgröße
ausfällt.
Hans
Castorp, nachdem bei ihm in der dritten Woche seines Aufenthalts ein kleiner
aber nicht unbedeutender Lungenschaden festgestellt wird, nimmt sich die Zeit,
hier oben zu bleiben und schiebt seinen geplanten Eintritt ins Berufsleben
erstmal auf - ja, auf unbestimmte Zeit. Und er findet nach und nach auch
Gefallen an der hier herrschenden Zeitlosigkeit. Zumal er sich auch noch
verliebt, in eine ungefähr gleichaltrige Mitpatientin, Clawdia Chauchat mit
Namen. Sie ist Russin und angeblich verheiratet, doch ihren Ehemann hat noch
nie jemand zu Gesicht bekommen. Und sie scheint ihn auch nicht zu vermissen.
Zwischen ihr und dem jungen Castorp entwickelt sich eine - aber kann man es
überhaupt so nennen? - Beziehung fast gänzlich unter der Sprachschwelle: Über
Monate hinweg besteht sie fast ausschließlich aus Blicken und kleinen Gesten,
die aber nicht eindeutig sind und auch ganz belanglos gemeint sein können.
Dabei wären beide zumindest des Französischen mächtig, doch konsequent
vermeiden sie jede gesellschaftliche Bekanntschaft und bleiben füreinander
offiziell lange Zeit Fremde.
Vieles
bleibt vorderhand offen in diesem Roman. Wie lange Hans Castorp auf dem
Zauberberg bleiben wird ebenso wie das Schicksal seiner Mitpatienten. Auf
Vetter Joachim trifft das ebenfalls lange Zeit zu, ehe der sich der ihm von
Hofrat Behrens, dem ärztlichen Direktor auferlegten Zumutung, nach jeder
ärztlichen Untersuchung für ein paar weitere Monate auf dem Berghof offen
zu sein, glattweg entzieht und, noch längst nicht geheilt, aus eigenem
Entschluss seinen Aufenthalt abbricht, um endlich sein Lebensziel, die
Ausbildung zum Berufsoffizier, in Angriff zu nehmen - mit für ihn fatalen
Folgen. Aber das ist schon fast gegen Ende des Romans. Gegen Ende nämlich kommt
die Offenheit zunehmend abhanden. Thomas Mann zeigt, wie diese bisher
weitgehend offene Welt sich verschließt und zunächst einer, wie die
Kapitelüberschrift lautet "großen Gereiztheit" weicht, ehe gar alles,
das ganze Berghof-Universum und die Welt drum herum, ein abruptes Ende
findet: Im Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Mit einem "Donnerschlag"
(so der Titel des Schlusskapitels) ist alles vorbei. Die, wie wir inzwischen
wissen, Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, zerstört eine ganze Welt. Sie
bringt, wie wir ebenfalls wissen, in der Unperson Hitlers den schlimmsten Dämon
dieses Jahrhunderts hervor, der das Zerstörungswerk fortsetzt und weitgehend
vollendet. Der Tod, im Zauberberg noch als individuelles Schicksal in
einer zweideutigen Schwebe gehalten, bricht in eindeutigster Brutalität hervor,
als massenhafte anonyme Vernichtung.
Am
Schluss des Romans ist also eine Epoche zuende und die Zerstörung des alten
Europa nimmt ihren Lauf. Thomas Mann zeigt, ähnlich wie in seinem später im
Exil verfassten Roman Doktor Faustus, der sich mit den
geistesgeschichtlichen Wurzeln des Nationalsozialismus beschäftigt, die
zunehmende Verengung im Denken und Fühlen der Menschen, die schließlich zur
Katastrophe des Ersten Weltkriegs führt. Signifikant ist dabei die Rolle des
Dialogs als friedenstiftende und friedenerhaltende Form des menschlichen Austauschs.
Die Menschen auf dem Zauberberg sprechen anfangs viel miteinander. Dabei sind
sie keineswegs immer derselben Meinung, im Gegenteil. Auch wird durchaus
manches Unangenehme beschwiegen, doch man bleibt stets im Gespräch. Oder man
kommuniziert über längere Zeit hinweg wortlos, wie Hans Castorp und Madame
Chauchat. Über längere Zeit, doch es bleibt nicht dabei. Am Abend vor Clawdias
Abreise wagt Hans Castorp es erstmals, sich der jungen Frau verbal zu nähern,
sie anzusprechen. Und das auch gleich noch mit du, angeblich weil gerade
Karneval ist, der auf dem Berghof durchaus gefeiert wird. Daraufhin
nimmt das weitgehend auf französisch geführte Gespräch einen
traumartig-somnambulen Charakter an, zumindest von Hans Castorps Seite, der
Clawdia seine leidenschaftliche Zuneigung gesteht und sich zu einer derart
enthusiastischen Huldigung ihrer Reize aufschwingt, dass diese ihn, den sie
zunächst als petit bourgeois nicht wirklich ernst nimmt, zuletzt doch
erhört, indem sie ihn beim späten Verlassen des Raumes ermuntert, den
Bleistift, um den Hans Castorp sie zur Gesprächseröffnung gebeten hat, ihr in
derselben Nacht noch zurückzugeben.
Gespräche
führen auch die beiden lungenkranken Intellektuellen Naphta und Settembrini,
und das am laufenden Band, zumindest in Hans Castorps Gegenwart. Es sind
philosophische Streitgespräche zweier weltanschaulich gegensätzlich gepolter
Männer mittleren Alters. Der humanistisch gesinnte Settembrini, der sich in der
Lehrerrolle gegenüber Hans Castorp gefällt, hatte dessen heftige Zuneigung zu
der lässig-schönen Clawdia zutiefst missbilligt, ja ausdrücklich davor gewarnt,
ihn aber in der entscheidenden Situation nicht davon abhalten können, sich ihr
zu nähern und ihr wortreich und geradezu auf den Knien seines Herzens zu
gestehen, was er für sie empfindet. Hans Castorps Einstellung zu dem Italiener
ist zwiespältig. Einerseits findet er alles was dieser in wohlgesetzter Rede
vorträgt, "hörenswert", andererseits erscheint er ihm durch seine
immergleiche Art auch als "Drehorgelmann", der "hier
stört". Settembrinis ausschließlich rationales Weltverständnis, in dem es
ständig nur um Vernunft und Fortschritt geht, ist Hans Castorp zu einseitig und
eindimensional. In Settembrinis Welt haben Schmerz und Leiden keinen Platz, und
schon gar nicht so etwas wie Überschwang und Ekstase. Ebenso hasst er das
Kontemplative, welches Hans Castorp hingegen sehr schätzt und selbst pflegt,
wenn er hingebungsvoll bei jedem Wetter in seinem "vorzüglichen Liegestuhl"
auf der Balkonloge liegt und stundenlang dort sinniert.
Naphta
ist ein Freigeist ganz eigener Art. Er ist Jesuit, zugleich aber auch ein
Verfechter des Kommunismus, den er durch Terror verwirklicht zu sehen wünscht,
so seine gesprächsweise, bei Tee und Baumkuchen, mit großer Bestimmtheit
geäußerte Auffassung. In schroffem Gegensatz zu dem durch und durch weltlich
gesinnten Settembrini ist seine Idealvorstellung so etwas wie die eines
katholisch-sozialistischen Gottesstaates, in dem Zwang und Gehorsam herrschen.
Der zunächst gesittete, fast tägliche Disput mit seinem Wohnnachbarn
Settembrini artet im Lauf von Monaten immer mehr zum heftigen Streit aus, bis
am Ende gar keine Worte mehr gewechselt werden, stattdessen kommt es - im Zuge
allgemeiner "Gereiztheit" - kurz vor Schluss des Romans zu einem
Pistolenduell zwischen den beiden. Diese Eskalation ist von Beginn an in der
Art ihres verbalen Verhaltens angelegt: Beide Kontrahenten tauschen lediglich
ihre bereits feststehenden und wie in Stein gemeißelten Ansichten aus, die sie
zwar diskursiv ausführlich und rhetorisch reichlich von oben herab darlegen,
jedoch von vornherein ohne jede Bereitschaft, sich auf ein Gespräch
einzulassen, in dem eine gemeinsame Dynamik entstehen, aus der sich etwas Neues
ergeben könnte. Stattdessen beharren sie unverrückbar auf ihren Auffassungen,
ihr Miteinander-Reden bringt sie gedanklich nicht weiter, es ist letztlich
nicht mehr als intellektueller Zeitvertreib. Hans Castorp indes ist es, in dem
das Gehörte arbeitet, und in der Situation existenzieller Bedrohung auf einem
auf eigene Faust und allein unternommenen Skiausflug klären sich diese Gedanken
- zumindest vorübergehend - zu einer geistigen Haltung, die er davor nicht
besaß: Der Mensch soll dem Tod keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.
Ironischerweise
geschieht es dann ziemlich exakt nach dem Tod des immer wieder als geradlinig
charakterisierten Joachim, der moribund aus dem Flachland zurückgekehrt war,
dass sich die Handlung und mit ihr die Personen des Romans zu verzerren
beginnen. Frau Chauchat trifft zwar, wie bei ihrem Abschied schon angedeutet,
im Sanatorium wieder ein, doch in Gesellschaft der "Persönlichkeit"
Peeperkorn, die in ihrer gewichtigen Größe alle anderen Personen
durchschnittlich, klein und auf unvorteilhafte Weise skurril erscheinen lässt.
Die geistig so regen und überaus wortmächtigen Settembrini und Naphta
schrumpfen in der Wahrnehmung des Lesers nun geradezu zu lebensuntauglichen
Schwätzern. Sie stehen ganz im Schatten des Neuankömmlings Peeperkorn, der,
nicht mehr jung und seines Tropenfiebers wegen dem Tode schon nahe, das Leben
feiert und das Gefühl an sich für göttlich oder zumindest für heilig erklärt.
Er äußert sich meist nur in abgerissenen Sätzen und veranstaltet exzessive Ess-
und Trinkgelage, um in der Gemeinschaft das Leben zu feiern. Eine phallische,
eine dionysische Figur, die Hans Castorp, der Naphta und Settembrini gegenüber
stets eine leicht ironisch-distanzierte Mittelposition bewahrt hatte, nun
geradezu kriecherisch umdienert, obwohl Peeperkorn ihm ja Clawdia
"weggenommen" hat, auf deren Rückkehr er sich so gefreut hatte.
Madame Chauchat selbst büßt als "Reisebegleiterin" Peeperkorns viel
von ihrem früheren Charme ein, als quasi Bacchus-Dienerin ist ihr wenig von der
vordem geheimnisvollen Aura geblieben - kurzum: der Zauberberg verliert
zusehends seinen Zauber. An dessen Stelle treten Stumpfsinn und leere
Geschäftigkeit. Hans Castorp, dessen Lunge eigentlich ausgeheilt ist, verharrt
antriebslos weiter im Berghof, legt dort Patiencen und betätigt sich als
Grammophon-Discjockey. Der tote Joachim, den zu besuchen er einst herkam, wird
in einer spiritistischen Session kurzfristig wieder herbeibeordert. Clawdia
Chauchat, um derentwillen Hans Castorp so lange im Berghof ausharrte,
ist längst zum zweitenmal abgereist - diesmal ohne Absicht, je wiederzukehren.
Und sie wäre auch nicht mehr das Wesen von damals, das ihn so lebhaft an seinen
Mitschüler Pribislav Hippe erinnert hatte, der ihm einst auf dem Schulhof einen
Bleistift lieh.
Die Zeit
der Doppeldeutigkeiten ist jetzt vorbei, die Berghofwelt, und mit
ihr die friedensmüde Welt draußen, steuert in öder und blöder Eindeutigkeit auf
den Abgrund zu. Es tut fast körperlich weh, diese letzten Kapitel des Buches zu
lesen - nicht weil sie schlecht geschrieben wären, sondern weil sie spürbar
machen, wie es sein konnte, dass keine Macht der heraufziehenden Katastrophe
des Ersten Weltkrieges etwas entgegensetzte.
Zuletzt
erschien von Jörg Neugebauer der Gedichtband ohne das alles
(im
Black Ink Verlag).
