Jörg Neugebauer: "Stilleuchtende Kraft"
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Jörg Neugebauer
"Stilleuchtende Kraft" - Ergänzendes zur Patmos-Hymne
Vordergründig bezieht sich Hölderlins Gedicht weitgehend nur auf den
Prozess der Zerstörung der antiken gestalthaften Welt (mit ihren sinnlich anschaubaren Göttern), an deren Stelle die geistige Welt der Christentums
tritt - einer Religion, deren Wesensmerkmal die Innerlichkeit ist. War das
religiöse Empfinden und Erleben in der Antike nach außen gerichtet, so geht im
Christentum die spirituelle Reise nach innen.
Christus selbst - so kommt es in der Hymne zum Ausdruck - ist als die
letzte gestalthafte Verkörperung der Gottheit zu sehen, als der letzte Gott der
Antike. Doch dieser stirbt, und sein Verschwinden aus der Sinnenwelt leitet die
Wendung "nach innen" ein. Damit ist ein großer Verlust, ein Leiden
verbunden. Mit der Trauer um den Gekreuzigten wird zugleich die Ent-Sinnlichung
der religiösen Haltung schlechthin betrauert - wie sie für den Pietismus
bezeichnend ist, dem der Landgraf, der Adressat der Hymne, sich zugehörig
fühlt. An die Stelle des Göttlichen als etwas sinnlich Erfahrbarem tritt die
Hinwendung zur "Schrift", in der das Göttliche nur geistig erfahrbar
ist.
"Nur"? Vom Standpunkt der Antike aus erscheint das tatsächlich
zunächst als eine Verarmung. Dieser sucht sich das buchstabengetreue
Bibelverständnis dadurch zu entziehen, dass es das Geschriebene wörtlich nimmt
und so aufs Neue eine fixe Bilderwelt entwirft. Eine andere gewiss als die
antike, mit anderen Gestalten und anderen Begebenheiten, doch mindestens ebenso
unverrückbar. Das eigentlich Geistige bleibt dabei leicht auf der Strecke,
Dogmen und blinder Glaube werden bald tonangebend.
Dem wird in der Patmos-Hymne der
Geist als schöpferische Kraft entgegengesetzt: Statt sich beim Lesevorgang an
die vermeintlich unverrückbaren Bilder, Gestalten und Dogmen zu klammern, gilt
es sich der "stilleuchtenden Kraft" des Geschriebenen zu öffnen,
seine schöpferische Energie in sich aufzunehmen - auf dass "Gesang" daraus entstehe,
also Sprache, die nicht lediglich etwas bereits Vorhandenes bezeichnet und
reproduziert, sondern die selbst Neues erschafft, indem sie den Geist der
Lesenden in Bewegung, in Schwingung versetzt anstatt ihn einzuengen und zu
fixieren.
Es handelt sich also um das, was wir heute unter "Poesie"
verstehen. Das Poetische ist ja das nicht wirklich Fassbare, es besteht meist
eher in den Leerräumen zwischen den Wörtern. Nicht wenn alles lückenlos benannt
und bezeichnet (womöglich zusätzlich noch bewertet) wird, entsteht Poesie,
sondern wenn die Lesenden beim Lesevorgang "ins Offene" schauen und
sich darin geistig bewegen.