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Jochen Kelter: Wie eine Feder übern Himmel

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Timo Brandt

Eine Misere, das Ganze …

„Während sie drinnen am TV
über die Krise in der Ukraine talken
harte Bandagen gegen Besänftigung
beamtet geföhnt vom immer gleichen
Werbewind der Ertragsmaximierung

Der Lebensentäusserung schaue ich
auf der monddunklen Terrasse wie
die Märzsonne spriessende Zweige
und Blätter der alten Rosenstöcke
befeuert hat und bedenke ob unser

Schreiben geeignet sei aus uns
heraus und uns gegenüber zu treten“

Gramvoll beginnt Jochen Kelters Gedichtband, dessen Texte den lapidaren Ton seines Titels „Wie eine Feder übern Himmel“ nie ganz erreichen werden, auch wenn es der Ton ist, von dem seine Gedichte ausgehen und wohin sie immer wieder zurückfinden; doch ausfüllen tut sie immer etwas anderes, dunkleres.

Die Gedichte des ersten Kapitels, in denen sich das lyrische Ich „allein auf dem Grund der Zeit“ fühlt, sind jedenfalls derart trostlos, dass man den Band am liebsten wieder zuschlagen würde. Seit César Vallejo hatte ich keine Dichtung mehr gelesen, die sich so konsequent hoffnungslos gab, mit einem forschen und gleichsam energielosen Zynismus bestreut.

Diese Hoffnungslosigkeit schlägt im Verlauf des Bandes durchaus um, in Anklagen und kämpferische Töne, hebt ihren Saum aber nie so weit, dass man sie nicht noch rascheln hört in tristen Wendungen, in Worten wie „Lebensentäusserung“, Bezeichnungen wie „alt“, „grau“ oder „immer gleich“.

„Durch zerborstene Wohnungen
bewegen sich Verteidiger zu ihrem
Schutz möge Gott uns als Märtyrer
für die Freiheit zu sich nehmen nur
Vogelgezwitscher noch und Granaten“

Ansonsten finden wir uns thematisch oft an Krisenplätzen wieder, alten wie neuen. Verschiedene Orte wie etwa Paris oder Piräus werden Schauplatz, aber auch über den Tellerrand hinaus geht der Blick, zu den aktuellen Kriegsgebieten, zu denen wir durch das Fernsehen eine gewisse Nähe, aber auch eine klare Distanz haben, wie etwa Syrien oder die Ukraine.

Es ist natürlich löblich, wenn sich ein deutschsprachiger Dichter mit diesen Themen auseinandersetzen will – die Frage ist allerdings, wie weit man dabei gehen sollte. Während in dem zu Anfang zitierten Gedicht über den Ukrainekonflikt die Perspektive des lyrischen Ichs durch die Position vor dem Fernsehgerät, sitzend und reflektierend, gekennzeichnet ist, ist es bei dem Gedicht über Aleppo und Syrien schon nicht mehr ganz klar, ob das lyrische Ich vor Ort ist, ob es einen Background gibt oder ob hier schlicht das Thema aufgegriffen und inszeniert wird.

Der dritte Teil des Bandes, „Nach Piräus“, beginnt mit einem Gedicht, dem ein Zitat von W. H. Auden vorangestellt ist:

„For nothing now
can ever come to any good“

Ein Zitat aus dem mittlerweile wohl bekanntesten Gedicht von Auden, dem neunten der „Twelve Songs“, ursprünglich geschrieben als (satirisch intonierte) Hymne eines glühenden Verehrers für seinen verstorbenen Diktator; dank des Films „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“ wird das Gedicht mittlerweile als Gesang an eine verlorene romantische Liebe wahrgenommen.

Kelters Gedicht, das auf dieses Zitat folgt, heißt „Sommer einundvierzig“ und skizziert Bilder von einmarschierenden Wehrmachtsoldaten und Massenerschießungen. Die letzte Strophe lautet

„Ab hier war jeder schuldig
der nicht schon geflohen verhaftet
ins Lager zu Tode gekommen war
zerschlagen zertrampelt zerstört
vor dem Sommer der Bestien“

Wo kommt das auf einmal her, wieso dieser Urteilsspruch (eines Nachgeborenen, Kelter wurde 1946 geboren)? Natürlich sind die entsetzlichen Greul, die Hitlers Soldaten beim Einmarsch in die Sowjetunion begingen, bis heute Grund zu warnen, zu mahnen, nachdrücklich und lückenlos zu schildern – und es ist auch wichtig, klarzustellen, dass viele Soldaten Zivilisten exekutierten, es also eine sehr große Anzahl von Tötungen gab, die nichts mit Kampfhandlungen zu tun hatten.

Aber diese letzte Strophe – sie überhebt sich, im doppelten Sinne. Nicht nur, weil sie die unfassbaren Verbrechen in allzu dramatische Worte packt und dabei vergisst, wie schwierig es manchmal ist, Dimensionen mit Wörtern zu benennen, und dass man folglich oft besser beraten ist, sie anzudeuten, Exemplarisches anzuführen – sondern auch weil der Dichter sich in die Rolle eines Richters erhebt, eine Rolle, für die er keine Voraussetzungen mitbringt und auf die man als Dichter, so finde ich, auch keinen Anspruch erheben sollte. Obwohl ich eigentlich verstehe, welche engagierte Prägung Kelter gerne seinen Gedichten verleihen will (was ihm dann und wann auch gelingt, so z.B. in einem Gedicht, wo er an die Mitschuld der Kirche im Ruanda-Konflikt erinnert – „erinnert“ und nicht darauf herumreitet).

Dieser Wunsch übersteuert manchmal seine Gedichte und schon wirken sie überzogen und drastisch, obwohl sie es strenggenommen gar nicht sind.

Alles in allem ist dieser Band voller kluger Einschübe und rüstiger Verse. Etwas zu selten lässt Kelter meiner Meinung nach Nachdenklichkeit, etwas Zartes oder Feines, zu, geht strikt seinen Weg auf wohlgefeilten Zeilenstufen, die aber manchmal etwas eindimensional wirken. Liest man manche Gedichte mehrmals, ist man richtig gehend überrascht, wie viel in ihnen steckt.

Man muss ein bisschen Geduld mitbringen. Dann gelingt hier und da Erhellendes, Wichtiges, Unverstelltes.

„dem grauen Leben und den
wenigen Goldkörnern schreibe
Worte wie Schnee und wie Tau
die fallen und wieder vergehen“


Jochen Kelter: Wie eine Feder übern Himmel. Frankfurt a.M. (Weissbooks) 2017. 128 S.16,90 Euro.
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