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Joachim Uhlmann: Drei Gedichte

Montags=Text
Joachim Uhlmann
Drei Gedichte

 

SCHERENSCHNITT

Wodurch vertraut mein Ich dem Ich
das zu Besuch ist bei der Tante Hoffnung
die weiße Rosen häkelt aber nach Verwesung duftet
und wieder nicht den dunklen Punkt erklärt
auf den der ausgefranste Vater zeigt
bevor er anfängt aufzuhören
weil er die irren Maschen nicht versteht?



ZUSTÄNDE

Ich komme aus dem Niemandsland
steige die Stufen einer knöchernen Treppe hoch
seh im Vorbeigehn kaum den abgebrannten Mann
der ans Geländer geklammert seit vielen Jahren
seine verkohlten Zitate summt.

Wie schön noch einmal die knisternden Vögel
als er genau wie jetzt die Tür mir öffnet
das Wort logisch in die Luft schreibt
mich auffordert mit geschlossenem Mund
einzutreten in die Ruine
wo er ein Zwitschern eben noch
zur Faust geballt verglimmen sah.

Was kann ich dafür daß ich mich nicht erinnere?
Wir nehmen unsere Plätze ein
jedenfalls diese Nacht an dem schwarzen Tisch
der immer leer blieb.
Hier wird ausgezählt droht mein Freund.
Er sitzt mir gegenüber zieht die Schublade auf
und beginnt mich zu verhören.



SEEING DELPHI

Nachdem der Bus hält
wird Vergangenheit bewältigt:
Kastalische Quelle und was noch?
Als die Klassiker sie erwähnten
tauchten ihre Sätze in ein Tremolo.

Jetzt flicht der Seelenführer
ein paar Lorbeerworte für den Lichtgott:
Apollo sieht echt sexy aus.
Auch Pythia wird nicht vergessen
Die vermutlich dies so nicht voraussah.

War sie die Zauberin der Zukunft?
Und lenkte sie vielleicht die Blicke
von der Felswand ab
indem sie Hoffen lehrte statt Verweilen?

Längst steigen alle wieder ein.
Die Selbsterkenntnis blieb zunächst erspart.
Der Ventilator haucht den Eingeschlossnen Kühlung.
Zurück zum Niflheim geht nun die Fahrt.


In Joachim Uhlmann: Aufschlüsse. Gedichte und Linolschnitte. Warmbronn
(Verlag Ulrich Keicher) 1995.
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