Joachim Sartorius: Wohin mit den Augen
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Sebastian
Raho
Joachim
Sartorius: Wohin mit den Augen. Gedichte. Köln (Kiepenheuer & Witsch) 2021.
80 Seiten. 20,00 Euro
In
fremden Ländern
Dieser
Gedichtband liest sich wie ein Reisebericht aus dem Süden: Der Dichter schickt
uns lyrische Depeschen aus Sizilien, Nordafrika und Anatolien. Und man liest
das gerne: Die Gedichte in diesem Band passen alle jeweils auf eine Seite,
zumeist sind sie in drei oder vier Strophen gegliedert und weder von Experiment
noch von Exaltiertheit verkompliziert. Die Sprache ist völlig unprätentiös und
klar. Man liest von Katzen, vom Haaresschneiden, vom Meer und manchmal wird man
in eine mythologische Welt der Vergangenheit entführt. Ich meine das positiv,
wenn ich sage: Das sind Gedichte in denen nur wenig passiert – gut so, wir
betrachten die Welt, wir sind einfach, wir reisen.
Heute wollen wir Syrakus hinter uns lassenheute wollen wir in die Berge,der Erde ihr schwarzes Fett aus der Vorzeit rauben,die Spelzen, die blauen Schatten, die verwischten Abdrückeall derer, die hier vorüber zogen,Sikelen, Punier, die Leute von Korinth, die Haudegen aus Grigenti,wollen rauben, was übrig geblieben istvon Ähren, Vorräten, Schwüren und schartigem Eisen.
Fast
objektiv, teilweise in flirrenden Skizzen, teilweise in eloquenten Versen wird
hier mitgeteilt, was offensichtlich vor uns zu liegen scheint. Man könnte fast
sagen, dass hier oftmals mehr aufgezählt, als gedichtet wird – nicht zum Schaden
der Gedichte, im Gegenteil. Oft liest man wie in einem lyrischen Tagebuch eines
vielgereisten Mannes, der die Schönheit der Welt kennt und sieht, aber schon
genug gereist ist, genug gesehen hat, genug gelebt hat, um von seinen
Abenteuern nicht mehr aus der Ruhe gebracht zu werden.
Mich
erinnert das an Czesław Miłosz,
dessen Gedicht „Augen“ dem Gedichtband vorangestellt wurde, und augenscheinlich
zum Titel des Bandes inspiriert hat. Hier findet man Alltagsbetrachtungen, die
in mediterranen Ländern zu verorten sind; kleine Bemerkungen und Gedanken dazu
bilden den inhaltlichen Kern dieser Gedichte. Es entsteht die Atmosphäre einer Ruhe,
einer Gelassenheit. Wir erfahren von einer Welt, die nicht mehr mysteriös ist,
und was an ihr rätselhaft blieb, kann uns nicht mehr zu kränken. Das erinnert
auch an William Carlos Williams, der in seinem berühmten roten Handkarren,
nicht mehr als einen roten Handkarren sehen wollte,– man liest an seinen
Gedichten heraus, dass Sartorius ihn, William Carlos Williams, ins Deutsche
übersetzt und herausgegeben hat.
Die
Gedichte folgen keinem Reimschema, keiner strengen Metrik, was nicht weiter
verwunderlich ist. Interessant ist, dass die Gedichte dennoch formale Kriterien
aufweisen. Man kann sich somit dem annähern, was an diesen Gedichten
„funktio-niert“, weil es dem Handwerk des Dichters entspringt, das er, bewusst
oder nicht, angewendet hat.
Am o.a.
Beispiel kann man gut erkennen, wie er durch Stilmittel Stimmung und Tempo
erzeugt: Wortwiederholungen schaffen Rhythmus – „Heute / heute“ – und auch
durch syntaktische Wiederholungen – „der Erde, ihr schwarzes Fett / die blauen
Spelzen“. Solche Verse spielen mit den Erwartungen der Lesenden, bauen
Erwartungen auf, die man erfüllen kann, oder nicht; Tempi, die man
beschleunigen oder bremsen kann. Das erzeugt auf eine subtile Weise, Neugierde,
Abwechslung und Rhythmik. Der einfache Schein dieser Texte trügt: Hier wurde
komponiert. Viele der Inhalte der Gedichte sind mit ihrer Form verwoben;
Lesende erfahren somit, indem sie nur darin lesen.
Ein Gedicht,
„Aufwachen in Ortigia“, verdeutlicht dies: Es erzählt vom Meer, von einfachen
Anblicken und Handlungen: Brot wird geschnitten, Salamander werden gesehen –
die Botschaft: Das Leben ist einfach, das Leben ist schön.
Die Nacht wäscht das Meer.Am Morgen ist das Wasser neu.Auf der Netzhaut wird Lichtmit Gischt bezahlt.
Eine
Art, dieses Versmaß zu bezeichnen, wäre, dass es mehr oder weniger jambisch ist,
mit Unterbrechungen jedoch: Am Morgen ist das Wasser neu.
Aber in dieser Strophe prallen auch „Nacht“ und „wäscht“ aneinander, auch beim
Wort „Netzhaut“ werden beide Silben betont. Aber ganz Verlass ist auf die
betonten Vers-Enden, die dem Atem beim Lesen Raum geben, diese kurzen Worte
bekommen eine lange Landebahn: „Meer“, „neu“, „Licht“, „zahlt“ – diese Worte
kann man ausgiebig hauchen und seufzen. Worauf ich hinaus möchte: So klingt das
Meer. Ein rhythmisches Rauschen, dazwischen schwappen die Wellen, dann schnauft
die Brandung am Strand. Die vielen Zisch-, und Reibelaute, die Sartorius
verwendet – Nacht, Licht, Gischt, Netz, ahmen das Krachen des Meeres nach (abgesehen
davon, dass hier Binnenreime und Assonanzen entstehen, die geschmeidig machen, beschleunigen
und vorantreiben).
Wie
sich ein Gedicht „anfühlt“ ist nicht nur auf Inhalt und Rhythmus
zurückzuführen, sondern auch auf seine Syntax. Sartorius verwendet zumeist
Verse, die mit einem Punkt enden, oder mit einem Komma (wie auch im obigen
Beispiel). Wenn der Vers nicht mit Punkt oder Komma endet, dann stimmen Vers
und logische Einheit trotzdem überein („Auf der Netzhaut wird Licht“ / …). Nur
sehr selten verwendet er Enjambements, wie es zum Beispiel William Carlos
Williams tat. Was heißt das alles? Hier entsteht eine Stimmung der Ruhe, der
Klarheit, der Vorhersehbarkeit. Hier finden wir ein Beispiel dafür, dass der
Dichter Form und Inhalt zu einer eindringlichen poetischen Maschine zu programmieren
vermag. Hier ist also jemand am Werk, der sein Handwerk versteht, jemand, der
versteht, ein Gedicht zu bauen.
Gedichte
geben aber auch Auskunft über diejenigen, die dichten. Die Welt, die hier
gezeigt wird, scheint unter Kontrolle. Der Dichter vermag sie in verdauliche
Verse zu verpacken. Das reale Chaos da draußen, das wir alle kennen, spiegelt
sich hier unter Kontrolle wider. Dass die Welt sich so ruhig in den Augen dieses
Dichter-Reisenden zeigt, verwundert – vor allem, wenn man reflektiert, über
welche Orte dieser Mensch schreibt: Tunesien, Ägypten, Griechenland, die Türkei,
und auch einmal über Syrien. Die Texte über Tunis wurden mit 2019 datiert, nur
wenige Jahre nach der gescheiterten Revolution, also zu einer politisch sehr
instabilen Zeit in Nordafrika. Im Gedicht heißt es: „Gleicht dieser Sommer
wirklich dem vorigen? / War das Jahr nur Warten und Onanie?“ Nun, Worte und
Kunst sind frei, auch wenn man über Syrien schreibt: Hier wird von den Phöniziern
erzählt, vom Bürgerkrieg und Massenmord an der Bevölkerung kein Wort. Die Augen
des Dichters öffnen sich nicht für die Armut, nicht für die politischen
Katastrophen, die diese Länder prägen. Eine differenzierte Wahrnehmung dieser
Orte findet sich nicht in diesem Gedichtband.
Dass
der Dichter aus einem reichen Land kommt und über ein armes schreibt, scheint keiner
Problematik zu unterliegen. Kann ein Deutscher über Tunis schreiben wie über Berlin?
Was für Augen, was für eine Sprache, braucht ein Schriftsteller, eine
Schriftstellerin dafür? Weder solche Fragen noch die Antworten darauf finden
wir in diesen Texten. Im Falle von Sartorius verwundert das umso mehr, da er
Herausgeber einer Anthologie politischer Lyrik ist. Doch es verwundert auch
nicht: Denn in der Einleitung dieser Anthologie stellt er klar: Lyrik ist nicht
inhärent politisch. Lyrik ist also nicht Sache der Gemeinschaft, obwohl
Gedichte klarerweise politisch sein können.
Was
hat das für Folgen? Das Ergebnis ist eine statische Welt, eine Welt, die
einfach ist, keine, die ständig im Entstehen ist, wo Gezerre herrscht im Wesen
der Dinge – und das ist genau das, was wir in diesem Gedichtband präsentiert
bekommen. Eine Welt, die einfach vor uns liegt, glatt und weit und
offensichtlich wie ein beruhigtes Meer. Ein Verdacht drängt sich auf: Die Welt
bricht hier nicht in die Texte ein, sondern in die Verse wird nur aufgenommen,
was sich der Macht des Dichters fügt.
Aus
der noblen Ruhe der Gedichte wird eine gespenstische Stille, wenn man bedenkt,
was diese Gedichte aussparen. Was ich hierbei bemängle, ist nicht, dass soziale
Themen ausge-klammert wurden (kein Gedichtband kann alles sagen); ich kritisiere
auch nicht die Beschaffenheit des Mikrokosmos, in den Sartorius uns führt – wo
ein unaufdringlicher Zauber herrscht – sondern eher diese Art, in der Welt zu
sein, die er uns als Dichter vorlebt: Die Gedichte von Sartorius fragen
nicht nach der Welt, sie sagen uns vielmehr, wie sie ist, ohne
dabei zu problematisieren, wer hier spricht. Was der Dichter uns
eröffnet, schließt er gleich wieder ab. Diese Gedichte schenken eine Weite, die
klein wirkt gegen den Horizont, den sie – heraufbeschworen – unentdeckt lassen.