Jerome Rothenberg: Rituale & Events
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Kristian Kühn
Gehe in einen Wald & hänge Kleidungsstücke an die Bäume
Wer erinnert sich wohl bei dieser Anweisung aus der
ugrischen Folklore nicht an die derzeitigen Aktivitäten im Hambacher Forst, an
den Streit Umwelt gegen Industrie. „Rituale und Events“ heißt der schmale Band
von Jerome Rothenberg, übertragen von Norbert Lange, herausgegeben für hochroth
Berlin von Peter Holland, in dem dieser Satz als Wald-Event ausgeschrieben ist.
Auf derselben Seite befindet sich vorab ein Kletter-Event
aus dem schamanischen Mythenkreis der Sarawak-Gegend im Norden Borneos:
Ein großes Gefäß wird aufgestellt, an dessen Seiten zwei kleine Leitern gelehnt werden. Eine Nacht lang klettern die Teilnehmer über eine der Leitern hinauf & an der anderen Seite hinab.
Im Anhang erfahren wir, dass die meisten der hier
veröffentlichten Texte Rothenbergs aus seinem Heft bei der Something Else
Press, New York, „Ritual: A Book of Primitive Rites & Events“ von 1966
stammen. Als Quelle für die Kletterveranstaltung gibt Rothenberg das
Referenzbuch für Schamanismus von Mircea Eliade an, „Schamanismus und archaische
Ekstasetechnik“ von 1951. Dort heißt es unter der Rubrik: „Die rituelle
Besteigung von Bäumen“:
Auch die Initiation zum dritten und höchsten schama-nischen Grad des manang von Sarawak enthält eine rituelle Besteigung: Man bringt einen großen Krug auf die Veranda, an dessen Rand man zwei kleine Leitern lehnt; eine ganze Nacht lang stehen sich die Initiationsmeister gegenüber und führen den Kandidaten auf die eine Leiter hinauf und über die andere wieder herunter. Archdeacon J. Perham, der als einer der ersten diese Initiation beobachtet hat, schrieb gegen 1885, daß er für diesen Ritus keine Erklärung bekommen könne. Doch scheint der Sinn ziemlich klar; es kann sich nur um einen symbolischen Aufstieg zum Himmel handeln, dem der Abstieg auf die Erde folgt.
Für die „Wilder-Mann-Events“ wird im Anhang bei Rothenberg das im englischsprachigen Raum auch in Lyrikkreisen so einflussreiche Kompendium „Der goldene Zweig – eine Studie über Magie und Religion“ von James George Frazer genannt, in dem es im Kapitel 28, Das Töten des Baumgeistes, heißt:
In Semic (Böhmen) wird der König am Pfingstmontag geköpft. Ein Trupp junger Leute verkleidet sich. Jeder einzelne trägt einen Borkengürtel, ein Holzschwert und eine Trompete aus Weidenrinde. Der König ist in ein Gewand aus Baumrinde gekleidet, das mit Blumen und Zweigen geschmückt ist, um seine Füße sind Farrenkräuter gewunden, eine Maske verdeckt sein Gesicht, und als Zepter hält er eine Rotdornrute in der Hand. Ein Junge führt ihn durch das Dorf an einem Strick, der ihm um den Fuß gewickelt ist, während die übrigen um ihn herumtanzen, auf ihren Trompeten blasen und pfeifen. In jedem Bauernhause wird der König im Zimmer umhergejagt, und einer aus dem Trupp versetzt dem König auf sein Rindenkleid einen Schlag mit dem Schwert unter so viel Lärm und Geschrei, daß es widerhallt. Darauf wird eine Vergütung erbeten. Die Zeremonie des Enthauptens, die hier etwas leicht genommen wird, tritt mit mehr Anspruch auf Wahrscheinlichkeit in anderen Gegenden Böhmens auf.[…]Die für unsere Zwecke vielleicht wichtigste dieser mimischen Hinrichtungen ist jedoch wohl die folgende böhmische: In manchen Orten der Umgegend Pilsens (Böhmen) wird der König am Pfingstmontag in Baumrinde gekleidet und mit Blumen und Bändern geschmückt. Er trägt eine Krone aus Goldpapier und reitet ein ebenfalls mit Blumen aufgeputztes Pferd. In Begleitung eines Richters, eines Henkers und anderer verkleideter Leute und mit einem Gefolge von berittenen Soldaten reitet er auf den Dorfanger, wo unter den Maibäumen eine Hütte oder Laube aus grünen Zweigen errichtet ist. (usf.)
Auch in diesem Fall gibt Rothenberg eine abstraktere, weniger theurgisch-magische Nacherzählung:
Ein wilder Mann, genannt Der König, wird in Baumrinde gehüllt, mit Blumen und Schleifen geschmückt. Er trägt eine Krone aus Goldpapier & reitet auf einem Pferd, das ebenso mit Blumen geschmückt wurde. In Anwesenheit eines Richters, eines Henkers & anderer Gestalten, & begleitet von einer Abteilung Soldaten, alle zu Pferde, reitet er auf den Dorfplatz, wo eine Hütte oder Laube aus grünen Zweigen errichtet wurde am Fuße der Maibäume, frisch geschnittener Tannen, die man bis zu den Spitzen abgezogen & mit Blumen & Schleifen geschmückt hat. Hier werden die Mädchen des Dorfes ausgeschimpft, wird ein Frosch geköpft & die Prozession macht sich über eine gerade, breite Straße auf den Weg …
Wie wir sehen, handelt es sich bei Rothenbergs Ritualwiedergaben im Prinzip um eine Kompilation ethnologischer Aufzeichnungen mit magischen oder initiatischen Konnotationen, auf die er aber nicht näher eingeht. Er lässt das Narrativ rein formal wirken: König des Waldes, Priestermagier oder Schamane, werden durch Einwirkung der Gemeinschaft dekonstruiert, ebenso Baumgeister, Tabus werden entschärft oder nicht benannt, notierte Übertragungszauber ohne Anrufungen für eventuelle Nachahmer unschädlich gemacht, die rituelle Hinrichtung des Königs bleibt ein karnevalistisches Reinigungssymbol usf. Er gibt keinerlei Erklärung für die Ereignisse, sodass man davon auszugehen hat, Rothenberg will die Wirkung den Handlungen entziehen und zur Kunst verallgemeinern, vielmehr heißt es im Anhang, den man vorab lesen sollte:
Der Herausgeber [J.R.] wählte eine Reihe von Ritualen & andere Handlungsabläufe aus einem weiten geographischen Rahmen & hat, soweit möglich, jede Bezugnahme auf mythische oder symbolische Erklärungen ausgelassen. Das führte zu zwei wichtigen Ergebnissen: (1) die Form der Aktionen bekommt zum ersten Mal die Bedeutung, die sie verdient; & (2) die entstehenden Arbeiten zeigen ihre nahe Verwandtschaft zu den – oft mythenlosen – Aktionen unserer eigenen Zeit, den sogenannten Events, Happenings, Decoll/agen, dem kinetischen Theater, der Performance-Kunst, Klangtexten usw.
An Joseph Beuys ist schließlich zu denken, der auch seit seinem Kriegserlebnis sich mit Schamanismus beschäftigte und z.B. 1974 in einem Raum der René Block Gallery in New York in Filz eingepackt sich drei Tage lang hinter Gittern mit einem lebendigen Kojoten ausein-andersetzte, der wiederum über den ausgebreiteten Wall-Street-Journalen seine Notdurft ver-richtete.
Ich habe mich gefragt, warum die Kompilation „Rituale & Events“ heißt und nicht „Rituale & Zeremonien“. Nun aber ist es durch das Wissen um die Entschärfung magischer Wirkung mit der Absicht von Kreativität und künstlerischem Experiment klar. Zur traditionellen Rolle von Frau und Mann, bzw. auch vielleicht als Therapievorschlag bei Familien- oder Sippenstreit, gibt es in dem Bändchen zwei „Sprach-Events“ und ein Happening des „Namen-Gebens“ unter Vorlage indigener Gruppierungen. Etwa: „Benutze die Sprache der Schamanen. Sage: die Leine & meine: der Vater“ oder „Mehrere Namengeber versammeln sich um einen toten Feind & rufen der Leiche beleidigende Namen zu. Diese Namen bekommen sodann die Rufer. Darunter solche: Lange Gräten, Voller-Dreck, Rücken-einer-Wildkatze, Gelbgesicht & Goldbusen, bei letzterem spricht man von einem Mädchen.“
In Zeiten des Shitstorms und der Selbstinitiierung werden hier (statt Lyrik) von dem amerikanischen Meister des Gewissens, fast 90 Jahre alt mittlerweile, ein paar Hinweise für künstlerische Rückbindungen an ursprüngliche Reinigungsformen und Weisheiten gegeben, und ich hoffe, Jerome Rothenberg, der unermüdliche Indianerfreund, bleibt auch heute, in diesen sich verfinsternden Zeiten, immer noch körperlich so vital wie am 6. Oktober 2014 im Lyrik Kabinett, als er Gedichte aus seiner damaligen 50jährigen Schaffensspanne (zusammen mit dem assistierenden Norbert Lange) präsentierte. Da war er schon zerbrechlich, solange er nicht vortrug – doch in den Momenten, in denen er, wie von Elektrizität durchdrungen, seiner Eingebung folgte und sein Körper sich aufbäumte und zu voller Stärke anwuchs, durch diesen „dionysischen Schub“ des sich Erinnerns und Zitierens, von Angesicht zu Angesicht quasi, da demonstrierte er, was ein Mensch sein kann, der durch vorübergehende Teilhabe die conditio humana überwindet.
Wenn du einen Traum hattest, lass jemanden raten, was es für einer war. Dann lass alle ihn gemeinsam aufführen.
Jerome Rothenberg: Rituale & Events. Hrsg. von Peter Holland. Übersetzt von Norbert Lange. Berlin (hochroth Berlin) 2019. 52 Seiten. 8,00 Euro.