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Jean Krier: Totenbuch

Gedichte > Münchner Anthologie

Jean Krier

Totenbuch


Doch kommen wir zum Thema zurück. Du meinst, das sei
schon schlimm, aber nichts zu machen: als Kind bereits
infiziert u nie mehr losgelassen – Lesen u Schreiben. Blatt
um Blatt, Bogen um Bogen vollgekritzelt seit damals.
Kein Mitleid mit Baum oder Stein, kein Einsehen. So mir
nichts, dir nichts ein Wort das andere, u nichts zu Buche.
Denn gutem Rat zum Trotz Oden gelesen u selbst bei hohem
Seegang ein Lied auf den Lippen. Und auch später hat sich
nicht gewendet das Blatt, einfach weiter gesprochen nach
der Schrift. Einen großen Satz gemacht, ja, diese Zeichen
u was sie bedeuten. Tanz mit den Bienen, u nur die Toten
sind erhaben über die Kühle des Kreuzgangs. Es hätte immer
u ewig so weitergehen können, denn ewig: das ist ewig
u sagt sich so leicht, während der Beipackzettel zerknittert
u ratlos Arzt u Apotheker. Die Leber auf dem Asphalt
verschmiert, die Todestropfen gezählt. Am Ende laust
doch der Affe. Allez, tournons la page.



Aus: Eingriff, sternklar. Gedichte aus dem Nachlass. Hrsg. von Michael Braun. Leipzig (Poetenladen) 2014.

Walter Fabian Schmid

Der Tod des letzten Gedichts


«Doch kommen wir zum Thema zurück.» – Ein ziemlich harter Einstieg für ein Gedicht so straight to the topic. Hier ist klar: der Text will seinen Leser lenken, indem er sich selbst dazu aufruft, alle Ablenkungen zu lassen. Das Subtile daran ist aber, dass der Satz in beide Richtungen verweist – vor und zurück. Nur was soll das sein, auf das ich mich konzentrieren soll und was ging dem voraus? Ersteres kriegen wir im Verlauf des Gedichts ziemlich schnell mit – und Jean Krier schafft es dabei, über drei Verse einen Spannungsbogen aufzubauen, der sich abrupt entlädt –: «Lesen und Schreiben», das ist es, worum es geht, oder besser: Es geht um das eigene Lesen und Schreiben des lyrischen Ichs. Es geht um das Lesen und Schreiben des Totenbuchs, das mit der Geburt beginnt und bei Jean Krier schon geendet hat. Im Januar 2013 erlag der bisher einzige luxemburgische Adalbert-von-Chamisso-Preisträger seiner Herzkrankheit, und dem Herausgeber Michael Braun ist es zu verdanken, dass er sich dem nachgelassenen Konvolut, zum Teil noch mit zusätzlichen Notizen und Anmerkungen, angenommen und mit Eingriff, sternklar lesbar gemacht hat.
       Selbst wenn man den gesamten Gedichtband nicht kennt, so kann man im Umkehrschluss zum obigen Gedicht doch sagen: Die Ablenkung vom eigentlichen Thema ist die Abwesenheit der Todesgedanken. Letztlich umkreist Krier ständig den Tod und öffnet damit den schriftstellerischen Topos des Schreibens gegen und mit dem Tod. Schreiben als lebenserhaltende Massnahme. Oder bei Krier eher etwas stoischer: Solange ich schreibe, bin ich. Natürlich liegt darin die Gefahr, dass man sämtliche Gedichte in Eingriff, sternklar autobiographisch liest. Dagegen spricht zwar nichts, aber mit der Betonung des Autobiographischen geht ein vermeintlicher Verlust des Kunstwerts einher. Der schreibt ja nur sein Leben auf. Wie aber Krier seinen Tod aufschreibt, ist ziemlich spannend, weil er verschiedene Reaktionen auf ihn präsentiert.
      Da gibt es nicht nur das Sachliche des Totenbuchs, das durchsetzt ist von Wehmut, die sogar noch eine Entschuldigung an das eigene Material motiviert; sondern da gibt es auch das Fröhliche der Befreiung, das Krier seine eigene Ode an die Freude anstimmen lässt. Da stehen Zeilen wie «Ein Leben, so kurz u sachlich wie möglich./ Kein Weinen, Klagen, Zittern, Zagen.» (Doux matou tout roux) gegenüber Versen wie «Zitter also u stirb. Feier fröhliche Urständ am nächsten Morgen.» (Es ist Nacht). Aber die Gleichzeitigkeit des nüchternen und des fröhlichen Fatalismus wird ja schon durch die beiden Cover der letzten Bände ausgedrückt – ein Ultraschallbild von Kriers krankem Herz.
       Dennoch ist das alles nicht so abgeklärt, wie es erscheinen mag. Denn genauso gibt es auch den Unglauben an den Tod: «Wie gesagt: das ist alles ein Irrtum. Der da/ im Flur, das ist kein Engel, u das bist nicht du,/ zur Blutbildsäule erstarrt. Niemand kommt/ dir je entgegen» (Stationär). Dieser Unglaube steckt auch in der Hoffnung des Totenbuches, ewig weiterschreiben zu können und stur seine Tätigkeit zu machen: «Und auch später hat sich/ nicht gewendet das Blatt, einfach weiter gesprochen nach/ der Schrift (...) Es hätte immer/ u ewig so weitergehen können». Aber irgendwann wendet sich das Blatt dann doch und das Schreiben des Totenbuches hat ein Ende: «Allez, tournons la page.» Und das bezieht sich nicht nur auf die vorherigen Verszeilen und das eigene Ende, sondern fordert den Leser selbst dazu auf, das Ende des Totenbuchs herbeizuführen. Denn ein Umblättern ist immer auch der Tod des letzten Gedichtes.

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