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Jayne-Ann Igel: wolken hinterm rollo

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Beate Tröger

Jayne-Ann Igel: wolken hinterm rollo. Gedichte. Bebilderung: Jayne-Ann Igel und Michael Wagener. Frankfurt a.M. (gutleut verlag – reihe licht) 2024. 90 Seiten. 28,00 Euro.

Metamorphosen des Blicks


Jayne-Ann Igels sechster Gedichtband „wolken hinterm rollo“ ist erschienen als zwölfter Band der „Reihe Licht“ im feinen Frankfurter gutleut verlag, der immer wieder durch die Publikation von im wahrsten Sinne des Wortes erlesenen lyrischen Position leise auf sich aufmerksam macht. Kaum eine Rubrik im Programm des Verlags als die mit dem Titel „reihe licht“ wäre dabei geeigneter für Igels Band, in denen das Optische und das Spiel mit Licht und Schatten im Zentrum stehen.

Der Band besteht aus einem Auftaktgedicht „Spiegel“, ihm folgen vier Abschnitte unter den Überschriften „Landlug“, „Schließlich wer“, „Kohlezeit“, „Reversion“ und eine Art Coda bzw. Schlussgedicht „Zurücklegen“. „Spiegel“ beginnt mit der Zeile: „ihre augen erblinden in diesem spiegel, in den sie täglich sieht, über den sich spuren staubs gelegt“ und beschreibt „die inspektion des trauernden ich, der traurigen seele, im winter und herbst vorzugsweise“. Die Bewegung aus der gegenwärtigen Anschauung hinein in die Schichten der Erinnerung ist nur eine von mehreren charakteristischen Bewegungen bzw. Metamorphosen des Blicks in diesem Band. Das Gleiten von der Gegenwart in die Vergangenheit, hindurch durch „spuren staubs“, das ausgelöst wird durch ganz bestimmte Anblicke von Gegenständen, Gegenden, Landschaften, durch Anblicke des Ichs, führt vor, dass die Bewegungen der Erinnerung sich nicht an eine Chronologie halten.

Unterstützt wird diese nichtlineare Bewegung durch die Anordnung der Gedichte. Obwohl in diesem Band datiert sind, ist die Ordnung eines Journals oder Tagebuchs aufgebrochen. Die Gedichte schreiten also nicht chronologisch fort, sondern sind in springender zeitlicher Ordnung versammelt unter vier Abschnitten unter den Überschriften „Landlug“, „Schließlich wer“, „Kohlezeit“, „Reversion“ und der Art Coda bzw. Schlussgedicht unter dem Titel „Zurücklegen“.

Viele der Gedichte im Band sind gesprochen aus der Position eines zu guten Teilen schon gelebten Lebens, sie schöpfen aus der Erfahrung, vollziehen aber auch kreisenden Bewegungen der Selbstreflexion: „blaß wie ein mondgesicht stiegst du in der dämmerung auf, die des morgens, fuhrst karussell mit dir, den deinen, deinem leben, abends dann der hölzernen glocken klang zu tisch“ --liest man im Auftaktgedicht.
Wer spricht hier, und in welchem Zustand? Gewiss jemand, der mit Melancholie vertraut ist, dem die denkende, sinnende, vielleicht auch brütende Suche nach Selbst-erkenntnis im Spiegel nicht als unbedingt erhellend, sondern auch als verdunkelnd erscheint und der sie dennoch vollzieht, jemand, dem die Introspektion nicht nur vertraut, sondern regelrecht lieb ist. Nicht umsonst heißt der Band nach einem der Gedichte „wolken hinterm rollo“. Auf den ersten Blick scheint es klar zu sein: Hier blickt jemand aus einem Zimmer nach Draußen durchs Fenster in die Welt hinaus. Doch bereits durch die Präposition „hinterm“ wird deutlich, dass wir hier nicht einfach auf etwas schauen, sondern die Kraft der Imagination, der Introspektion gefordert ist, eingesetzt wird. Und dies wäre die zweite charakteristische Richtung des Blicks: Eine Inversion oder Reversion von Außen nach Innen, von dem was aus der Anschauung nicht unbedingt ins die eigene Geschichte Erinnernde, sondern ins zeitlich ungerichtet Imaginierende zielt.
Gut zeigen lässt dich das am Gedicht „eine übertragung“, das eine poetische Beschreibung des Gemäldes „A Cape Cod Morning“ (1950) des US-amerikanischen Malers Edward Hopper vornimmt. Hoppers Gemälde zeigt den Ausschnitt eines freistehenden Holzhauses, dessen Erker im Zentrum des Bildes steht. Hinter dem Fenster steht eine Frau im schlichten roten Kleid, sie ist im Profil abgebildet, ihr Haar trägt sie zurückgekämmt, ihre Haltung ist nach vorne gebeugt, sie stützt die Hände auf ein Möbelstück, das Licht fällt hell auf sie.

Im Gedicht von Igel heißt es:

„du bewegst deinen schatten im erker, wirfst ihn aus dem fenster
in der dämmerung, du blickst ihm nach, als wäre er
der gatte, der zeitig am morgen aus dem haus, und wartest
nun, spürst nicht, wie die zeit und mit ihr auf
dem bürgersteig der schatten zerrinnt –“

Die Übertragung, die dieses Gedicht vollzieht, könnte, insbesondere im Zusammenhang mit dem erblindenden Blick in den Spiegel des Auftaktgedichts, auf den Titel übertragen und umgedreht werden: Dann wären die „wolken hinterm rollo“ im Zimmer, sie wären zugleich eine Metapher für die melancholisch-nach innen gerichteten Gedanken des sprechenden Subjekts.

Die „Übertragung“ findet also auf mehreren Ebenen statt. Zum einen als Übertragung des Hopperschen Bildinhalts ins Medium der poetischen Sprache. In der Diegese des Gedichts findet eine weitere Übertragung statt: Der Schatten des Ichs wird in dessen Vorstellung zum Gatten des Ichs, es findet eine Aufspaltung statt, die aber nicht nur die Homologie der Form betrifft – der Schatten des Ichs ist möglicherweise verwechselbar mit dem Schatten eines (imaginären) Gatten –Auch die Konsonanz der Substantive „Schatten – Gatten“ legt diese Übertragung im Gedicht nahe.

Zudem lässt sich das Gedicht auch als eine Übertragung im Sinne Freuds verstehen. Die Dissoziation des Ichs, das seinen Schatten aus dem Fenster wirft, geht tief, scheint weit zurückzuliegen, womöglich in der Kindheit geschehen zu sein. Das sprechende Subjekt erfährt den Gatten als aktiven Part, als den, der das Haus verlässt, während es selbst in Passivität verharrt, die zerrinnende Zeit nicht mehr als solche wahrnimmt, und selbst den Gatten nicht mehr als klar konturiertes Subjekt wahrnehmen kann, sondern wiederum selbst zerfließend wie die Uhren aus Salvador Dalís Gemälde „Die Beständigkeit der Erinnerung“ (im spanischen Original „La persistencia de la memoria“). Die Aufspaltung führt zur Auflösung.

Diese selbst eine weitere Übertragung vornehmende Lesart wiederum führt zurück zum Ausgangsmaterial des Gedichts, zu Hoppers Gemälde: Stellen wir uns eine amerikanische Ehefrau der 1950er-Jahre vor, mit einer vergleichbaren psychischen Disposition, von ähnlichem Ehrgeiz zur Perfektion angetrieben, mit ähnlichen Dissoziationserlebnissen wie die junge Protagonistin Esther Greenwood, die 1953 in New York ankommt. Vielleicht, so lässt sich mit Jayne-Ann Igels Gedicht mutmaßen, könnte es eine Frau wie Greenwood sein, die in Hoppers Gemälde aus den 1950er-Jahren aus dem Fenster blickt, bei hochgezogenem Rollo, was das ins Bild gesetzte Fenster angeht, der wie ein heruntergelassenes Rollo ist, was den Blick ins Ich betrifft. Nicht umsonst kann „wolken hinterm rollo“ auch an die Redensart „die Schotten dichtmachen“ im Sinne eines Sich-Verschließens verstanden werden.

Immer wieder stellt oder bewegt sich das sprechende Subjekt dieser Gedichte in solche beobachtenden, zugleich hoch sensitive, aber auch gelegentlich ins Somnambule gleitende Positionen wie in diesem Gedicht. Herbst, Winter, Nebel, die Farbe Grau, das Dickicht, verglühendes, verlöschendes abnehmendes Licht sind Motive, die immer wieder in diesem Gedichtband genannt werden. Entfremdung, Dissoziation, Fremdsein, Verlusterfahrungen und mangelnde Verwurzelung in der Welt oder gar in einer bürgerlichen Existenz begleiten dieses Ich, das sich als fluide, kontingent und vergänglich erfährt -- und dennoch dichtend dagegen anspricht. Immer wieder finden sich auch Reminiszenzen an die untergegangene DDR, in der Jayne-Ann Igel mit dem Schreiben begonnen hat. Verse vom „pioniersiedler-ich, ohne ehrenkranz, ohne zubrot, ein wenig krieg, ein wenig list, das gabs danach, betrauerten wir das tuch der einen und der anderen fahne“ deuten unmissverständlich auf diesen konkreten historischen Referenzrahmen und zeigen, wie sehr die Erinnerung im deutsch-deutschen Gefüge unter denen, die im Deutschland des Kalten Krieges aufwuchsen und lebten, sich je nach dem jeweiligen Sozialisationshintergrund unterschiedlich entfaltet.

Das Schlussgedicht unter dem Titel „Zurücklegen“, in dem das Verb „zurücklegen“ in seiner schönen Doppeldeutigkeit im Blick auf ein Leben bedacht wird, schließt einerseits einen Kreis, bricht aber auch aus der kreisenden Bewegung des Anfangsgedichts aus, indem es eine gerichtete, progressive Bewegung beschreibt:

„zeilenweis zurückliegendes, zurückgelegtes leben, für
was, vielleicht für später, so wie man sich etwas im
geschäft zurücklegen lässt, weil man es im moment nicht
zu tragen oder zu bezahlen vermag, es,
so man noch wege zu erledigen hat, verderben könnte […]“.

In gewisser Weise vollzieht der Band zwischen Auftakt- und Schlussgedicht im Medium der poetischen Sprache, was der dänische Philosoph Søren Kierkegaard in seinem Tagebuch vermerkte „Es ist ganz wahr, was die Philosophie sagt, daß das Leben rückwärts verstanden werden muß. Aber darüber vergisst man den andern Satz, daß vorwärts gelebt werden muß.“ Es ist erstaunlich und erhellend, wie Jayne-Ann Igels Gedichte die Lesenden in ihre Kreise einschließen.


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