Jayne-Ann Igel: wir ländern uns fort
Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen
Andreas Hutt
Neuland
sei sichel, sagte sie, die meine mutter war, sei die mit demkurzen stiel, und geh dahin, wo ich nie gewesen; mit wortenzu leben heißt, gegenorte zu bilden –
Diese drei Verse
stellt Jane-Ann Igel ihrem Gedichtband „wir ländern uns fort“ voran und sie
macht damit viel von der Programmatik ihres Schreibens deutlich, wie sie in den
nachfolgenden acht Kapiteln ihres Werks umgesetzt wird. Igels Texte sind kurz,
beinhalten narrative Elemente, bewegen sich nahe an der Prosa und besitzen
einen offenen Anfang. Der Schluss eines Textes wird durch einen Gedankenstrich
gebildet. Der Leser/ die Leserin ist dazu aufgefordert, die letzten Worte der
Dichterin mit eigenen Assoziationen anzureichern und über den Textcorpus hinaus
weiterzudenken.
Auffällig ist,
besonders im ersten Kapitel „Fallen“, das sich mit dem Nachwirken von
Industrielandschaften im Heute befasst, dass Orte eine zentrale Rolle in der
Wahrnehmung des lyrischen Ichs besitzen und zum Schreiben von Texten
inspirieren, die auf diese Weise zu den oben erwähnten Gegenorten werden. Diese
Verfahrensweise wird im ersten Gedicht „Landzungenweise“ im titelgebenden
Zyklus „wir ländern uns fort“ thematisiert, in dem es bezüglich des Sprechens
über Landschaften heißt:
Wir reden landschaftlich […] die zungen gehendahin und mit ihnen die begriffe, an die man sich hält unddie in einem selbst eine wandlung erfahren […]Wir lassen die zunge hinaus und betretenneuland, immer ist es neuland, ganz gleich, ob es beackert,bebaut oder verdorben, umfriedet […]
Im Sprechen bzw.
Schreiben über Orte, an denen man gelebt, die man besucht oder gesehen hat,
entwickelt man etwas Neues, Anderes, einen Ort in der Sprache, der durch reale
Eindrücke inspiriert sein mag, aber Eigenständigkeit besitzt. Folglich kann man
sich in der sprachlichen Auseinandersetzung mit den Landschaften, die einem
begegnen, weiterentwickeln oder – wie es die Dichterin nennt – fortländern.
Jeder Ort, den wir aufsuchen, fügt unserer Existenz eine Facette hinzu, lässt
wachsen, macht uns in der sprachlichen Verarbeitung reicher. Es überrascht
daher nicht, dass dem Band von Igel ein Faltblatt beigelegt ist, das
Fotografien karger spätherbstlicher Land-schaften enthält, die das Gedicht
„Keine landschaft“ kongenial illustrieren – als wolle man die Bedeutung von
Orten für die Autorin auf künstlerische bzw. editorische Weise besonders
hervorheben.
Im letzten
Kapitel des Bandes „Zugabe“ schreibt die Dichterin bezüglich eines 1982
entstandenen Textes „zu diesem zeitpunkt glaubte ich noch zwischen tagebuch-
und gedichteschreiben reinlich trennen zu müssen.“ Diese Distinktion ist in
„wir ländern uns fort“ aufgehoben. Etliche Gedichte spiegeln Alltagssituationen
wider, Waldspaziergänge, Erinnerungen an früher oder thematisieren durchwachte
Nächte des lyrischen Ichs. Die Grenzen zwischen der lyrischen Verarbeitung des
Alltags und tagebuchartigen Versatzstücken sind fließend. Aber auch in diesen
Gedichten werden die Alltagserfahrungen versprachlicht zu Gegenorten der
Realität, erfahren eine Aus- oder Umdeutung, unterstreichen, dass Jayne-Ann
Igel Leben in Verse zu fassen vermag.
Lichtfallenkiefernende, die stämme neulich fast schwarz, dunst übermgelände, durchs nadelwerk fällt das licht, wir haben schonaufgegeben, was zu wollen, wir schauen zu, wie es fällt,schneisen schlägt durchs gehölz, und lassen dann denschnitter kommen –
Jayne-Ann Igel:
wir ländern uns fort. Frankfurt a.M. (Gutleut Verlag) 2022. ISBN
978-3-948107-34-5. 122 Seiten. 28 Euro.