Jayne-Ann Igel: die stadt hielt ihre flüsse im verborgenen
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Timo Brandt
Ränder, Aussichten
„was an zeugnissen von einem leben bleibt: immer weniger,trotz der heutigen möglichkeiten“
Im Verschwinden, auch im Verschwundenen, kann man noch
Gedichte anpflanzen, und sie blühen mindestens einmal. Dem Sog, der alles
entzieht, widersetzt sich das Gedicht mit seiner Brandung, seinen widerständigen
Gezeiten. Wäre die Welt, das Universum, ein Lied, dann wäre das Gedicht der
Versuch eines Refrains.
In Jayne-Ann Igels neuem Gedichtband (denn als
Prosa-Gedichte würde ich diese Texte bezeichnen) geht es viel um Entlegenes,
Entschwundenes, über das Rad der Zeit Gespultes und unter selbiges Geratenes.
Schraffuren von Landschaften und ineinander gleitende, nur angespielte Motive
aus Erinnerungsstücken sind die Hauptakteure in den fein gesponnenen, dann und
wann wie durch ein ungewöhnliches Zielfernrohr hindurch fixierten Wahrnehmungsstreifen,
Rändern und Aussichten.
„durch hohes gras, neben der spur, wo die kelchblätter desmohns schon am verblassen, kaum dass sie sich aufgefaltet,indes das licht ohne gnade hinfälliges richtet …“
Es scheint oft so, als würde die Sprache der Gedichte – über
die dünnen Wortstützen der (Gedanken)Welten gleitend wie über ein Geschmeide –
nach einem Pausenknopf tasten, der in der Lage wäre die Welt im Eindruck
verharren zu lassen. Aber eigentlich bildet sie den Verlauf ab, den Abhang in
jedem Augenblick – und jene Abhänge, die auf Abhänge folgen, das Gefälle der
Zeit und ihrer Räume (und sind nicht Höhenflüge auch nur Abhänge, derweil die
Welt kopfsteht?)
Ich bemühe mich zwar, die dünne Eloquenz von Igels Versen
greifbar zu machen, aber es ist schwer; eine verkürzte Zusammenfassung könnte
lauten: sie sind sehr filigrane Voll-züge, diese Gedichte.
„wie war es doch, sich in die reihe zu schieben, zu schweigen, in dergewißheit, nicht mehr gefragt zu werden, weil immer zu spätins leben getreten, aber letztendlich in den trott geraten, wahrheitenvernommen, die mär von der eigenen wiederkehr“
Obgleich sie geschickt abbilden, schieben die Texte zwischen
sich und einer konkreten Feststellung, einer klaren Behauptung, stets noch eine
Spur Ungewissheit, ein Zögern, eine Irritation; eine sich ins Elliptische
neigende Unwägbarkeit läuft immer mit. Hier und da zerbröselt der Ausdruck,
woanders zurrt er dann wieder das Dahingleitende zusammen.
So entsteht mitunter eine Stimmung, eine Atmosphäre in den
Texten, die ich als gute Verkörperung des Traumgeschicks in der Wirklichkeit
bezeichnen würde. Traumwandlerisch bewegen sich die Gedichte durch ihr Gelände
und alle Kanten und Ecken darin weisen dieses Gelände als Abbild der
Wirklichkeit aus. Aber die Kanten sind nicht einfach da, sie ragen hervor aus
einem Nebel, der der Wirklichkeit und dem Versuch sie zu erfassen gleichermaßen
entsteigt; der Nebel ist das, was uns Leser*innen – Menschen, die wir denkend
und erwartend, wertend und konditioniert, erfahren und unwissend durch die Welt
streifen – von den Dingen trennt, obgleich wir sie sehen, hören, denken können,
zu kennen glauben, etc. Wir stoßen zwar immer und überall auf die Wirklichkeit,
aber wir werden ihr nie ganz angehören. Wir konstruieren (träumen) unsere
Wirklichkeit, die stets mehr auf uns basieren wird als auf den Dingen, auch
wenn es die Dinge sind, denen wir uns letztlich immer wieder unterwerfen
müssen.
„manchmal der gedanke, daß einem nur die vergangenheitbleibt, das, was man nicht besessen hat, und alles zukünftigeallein deren widerschein“
Nicht unbedingt mit großem Nachdruck, aber mit einer
konzentrierten Beharrlichkeit, die mit Zerstreutheit nicht verwechselt werden
sollte, graben die Sentenzen Stollen in das Bergewerk ihrer Eindrücke. Die
Zeilen sinken schnell und schwer auf den Grund ihrer Dinge und leuchten dabei,
schwach, aber sichtbar, im großen Dunkel, das sie umgibt; vielleicht ist das
Wasser zu tief, dann verlieren wir sie aus den Augen. Aber wissen immerhin:
hier ist es tief.
„das blickt zurück vom grunde, eher noch: es starrt –“
Lange habe ich darüber nachgedacht, ob die Gedichte eher
offen oder geschlossen sind. Das Gesagte wird hier oft zur Grenze – einerseits.
Aber auch zum Aussichtspunkt, andererseits.
Vielleicht verhält es sich mit diesem Gegensatz wie mit
einem ähnlichen Gegensatz in einem Gedicht von Igel, wo es um Gruben und Halden
geht: zwei Erscheinungen, die sich gegenseitig bedingen, obwohl sie
gegensätzlich sind.
Nach all dem, was ich geschrieben habe, müsste ich wohl
nicht extra noch erwähnen, dass es sich lohnt, den Band zu lesen. Ich tue es
hiermit trotzdem: lesen!
„als wir den seen noch zu füßen lagen und ihrer geheimnisseharrten, vor augen jene kleineren gewässer, in denen diealgen gleich schimären von einem leben kündeten, dessenwir nie habhaft werden würden, es sei denn im moment desvergehens –“
Jayne-Ann Igel: die stadt hielt ihre flüsse im verborgenen.
Frankfurt a.M. (gutleut verlag – reihe licht #2) 2018. 72 Seiten. 20,00 Euro.