Jaromír Typlt: Ein Abendmahl wie an einem Schießstand
Werkstatt/Reihen > Reihen > Über die Schwelle - Neues aus Tschechien
Foto: Apolena Typltová
Jaromír Typlt
Ein Abendmahl wie an einem Schießstand
übersetzt von Patrik Valouch
Die Szene öffnet sich vor den Zuschauern wie ein riesiges Maul. Ich wäre verwundert, wenn die Schöpfer der Nürnberger Inszenierung von Werner Schwabs Stück „Übergewicht, unwichtig: Unform“ nicht dabei ein wenig an die mittelalterlichen Gemälde gedacht hätten, in denen, gewöhnlich unten in der Ecke, ein Höllenabgrund in der Form des ungeheuerlichen Schlunds des Leviathan abgebildet ist. Aber die massigen, dunklen Lippen an der Szene des Staatstheaters gehören zweifelsohne einem Menschen: das Scheusal kann nicht mehr länger verbergen, was es in Wahrheit ist. Das Szenenbild ist bis zu einem solchen Grad ausgereizt, dass ich zunächst dachte, als sich der Mund zum ersten Mal öffnete, ich sehe eine Reihe von Zähnen und keine Menschengestalten, denn auf den grellhellen Kostümen waren die Beine nur als gespreizte Schenkel angedeutet und ähnelten wirklich eher freigelegten Zahnwurzeln.
Ich würde sagen, dass diese Aufführung in meiner Erinnerung mit keiner anderen verschwamm, die ich schon gesehen hatte oder jemals sehen werde. Der jungen Gastregisseurin Rieke Süßkow und dem Team des Staatstheaters ist ein wirklich abweichendes, nur schwer zu verwechselndes Ereignis geglückt. Und Schwabs Theaterstück hat sich mir schon einmal in einer anderen beeindruckenden Inszenierung unvergesslich eingeprägt – mehrmals besuchte ich die Aufführung im Prager Theater „Divadlo Komedie“, deren Prämiere im Januar 2009 unter der Regie von Dušan David Pařízka stattfand. Unter anderem machte die Sprache der Übersetzung, die von Tomáš Kafka stammte, einen großen Eindruck auf mich. Es handelte sich um ein Tschechisch, bei dem mir schien, als würde Vančura unerwartet aus seiner launischen Wortzauberei in unheilvolle Dunkelheiten stürzen und wieder als ein bis dahin verleugneter Schatten auftauchen, weil all die Vorliebe für Weitläufigkeit und ungewöhnliche Ausdruckskraft sich plötzlich als die ausgetüftelte Lügenspinnerei seiner selbst und die der anderen offenbarte. Ein Rechtfertigungsversuch – im Sinne von Aushöhlen, durch unablässiges Gerede eigentlich Zermahlen – von Gemeinheit und Dummheit, Rücksichtslosigkeit und Gewalt.
Auch Rieke Süßkow nahm sich Schwabs Sprache an, für die sich unter den Theaterzuschauern bereits die Bezeichnung „schwabisch“ eingebürgert hatte, als eine der entscheidendsten Regieinspirationen. Die Figuren erhielten ihr eigenes Profil und Persönlichkeit ausschließlich durch ihre Rede, aus den hastig hervordrängenden Worten, in denen sie sich vergeblich als jemand auszugeben versuchen, in dem sie sich gerne sehen würden. Süßkow hat hierbei mit bewundernswürdiger Kühnheit gänzlich auf die Schauspielpsychologie verzichtet und ging sogar so weit, dass sie die Schauspieler in die mechanischen Bestandteile einer Art großen knarrenden Automaten verwandelte. Alles wird hier nach dem Verfahren eines mobilen Schießstandes gesteuert, an dem mithilfe verborgener Zugstangen, Zahnräder und Federn von einer Bewegung zuckend in die andere umgeschaltet wird. Und dies ist kein eigenwilliger Regieeinfall, der schnell seine Möglichkeiten ausschöpft – aus dem Ergebnis dieser Ein-schränkung steigt eine reiche und verwandlungsfähige Partitur auf. Das Stück schneidet immer heftiger ins Mark und wird beinahe zu einem unerträglichen Spiegel. Der Zuschauer kann sich nur schwer der Frage entziehen, ob er selbst mehr macht als ähnlich beschränkte Drehungen, Neigungen und Änderungen mit dem Armwinkel. Können wir mit unserem Verhalten wirklich dem zermalmenden Schwungrad einer vermeintlichen zivilisierten Gesellschaft entweichen, in der so sichtlich das Bedürfnis zunimmt, an irgendwem seine Frustrationen auszulassen?
Der Untertitel „Europäisches Abendmahl“, den Werner Schwab seinem Stück anfangs der 90er-Jahre gab – uraufgeführt in Wien im Januar 1991 – wirkt zwei Jahrzehnte später wirklich düster. Wie eine beklemmende Prophezeiung von etwas, was nicht passieren sollte, aber dabei schon oftmals passiert ist.
„Frau Wirtin, erzählen Sie noch irgendeine europäische Geschichte“, bittet an einer Stelle ein Teilnehmer ebenjenes Abendmahls, als würde er um ein Märchen bitten, und die Wirtin beginnt tatsächlich besänftigend zu erzählen: „Europa ist voller Geschichten. Man macht eine Gemeinschaftsreise nach Europa und macht einen Ausflug in einen Geschichtshaufen hinein. Die Geschichten liegen übereinander wie Gewandfetzen, und jede Geschichte handelt von den Verbrechen der Verbrecher, und wie man mit einem neuen Verbrechen ein altes überholen könnte.“
Wo sonst, wenn nicht gerade hier in Nürnberg weiß man so gut, dass es doch überhaupt nicht um ein Märchen geht?
11.11.2023, Jaromír Typlt
Der
Übersetzer dankt herzlich Klaus Anders
für die kritische Durchsicht.
Jaromír Typlt (*1973): tschechischer Dichter, Performer und Kunsthistoriker. Auf Deutsch erschienen zwei Bücher: die Lyriksammlung oder schnurstracks (hochroth, Edition OstroVers 01, 2018) in der Übersetzung von Martin Mutschler und auch Prosa Michal über Nacht (Kant, 2019) in der Übersetzung von Max Zaloudek (in der Zusammenarbeit mit Nikola Mizerová).
Der vorliegende Text des Autors ist im Zuge des diesjährigen vom Prager Literaturhaus (Pražský literární dům) vergebenen Writers-In-Residence-Programms „Grenzenlos: ein mittelfränkisch-tschechischer Literaturaustausch“ während seines Aufenthalts in Nürnberg entstanden.