Direkt zum Seiteninhalt

Jari Niesner: Eine durchaus ernste Angelegenheit

Montags=Text
Foto: Silvana Uibel
Jari Niesner

Eine durchaus ernste Angelegenheit
(nach einer wahren Begebenheit)


Ich zog mir noch schnell einen Jay rein. Dann hatte ich den Mumm beisammen, um raus in die kalte Oktobernacht zu treten. Ein Tasche mit dem in Malerfolie gehüllten Objekt hing an meinem Arm. Ich hatte eigentlich an alles gedacht — jetzt musste ich mein Glück nur noch versuchen. Laut ihrer Homepage durfte es auch der richtige Tag sein: Mittwoch. Am Wochenende zuvor hatte ich mich bei Tag auf dem Gelände schon etwas umgesehen. Bauzaun, schwere Maschinen und mannshohe Schlammberge zeugten von einer unübersehbaren Baustelle. Das einstöckige Gebäude lag dahinter halb versteckt, direkt an einer Zugbrücke und neben einer breiten Hauptstraßenunterführung. Unweit davon, auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich ein deutsch-serbischer Freundschaftsverein mit rot-blau-weißer Fahne über der Tür.

Die nasskalten Straßen gaben einen Vorgeschmack von Winter. Allmählich verdunkelte sich der Himmel und die Lichter der Autos spiegelten sich in liegengebliebenen Pfützen. Die Wirkung des Krauts machte mich gegen den Wind gefeit und bezwang vorerst die Launen der Fortuna. In weniger als einer halben Stunde hatte ich den Asphaltweg auf mich genommen.

Mittwochs ist Luftgewehrschießen. Die Schützengilde liegt friedlich und nur von ihrem eigenen Schein erleuchtet vor mir. Das Gebäude ist alt, in den 1970ern stehen geblieben und wirkt beinahe etwas verrucht. In der spätjährlichen Dunkelheit hätte ich mich wahrscheinlich gegruselt, aber meine nebligen Gedanken kreisen wie ein Fischernetz um das Ziel, das es zu erreichen gilt.
             Ich klingle — just in diesem Moment geht die Tür auf, und es treten zwei Männer heraus. Sie sehen mich überrascht und skeptisch, aber nicht abweisend an, und ich trete zurück, während sich der eine direkt eine Kippe ansteckt.
     Sie sind vor die Tür getreten, um zu rauchen, und führen ihre kurzzeitig unter-brochene Unterhaltung in vertrautem Ton fort, nachdem ich mich kurz vorgestellt habe. Die beiden Männer nennen wie beiläufig ebenfalls ihre Namen, und ich komme mir vor wie eine Katze, die sich durch seltsame Verrenkungen Aufmerksamkeit zu verschaffen sucht. Ich verstehe nicht, was sie reden, aber es scheint sie zu fesseln. Es ist beinahe so, als ob die Männer mich wie eine unliebsame Störung uralter Gewohnheiten halb ignorieren, in meiner auffallenden Erscheinung mit Hut halb abgelenkt bestaunen. Eine Katze, die während des Fußballfinales Krauleinheiten fordert. Ich erkenne den einen als Trainingsleiter von der Homepage und erkläre zögernd, dass ich Künstler bin. Vor allem im Bereich der Performance unterwegs, würde ich im Gesamten betrachtet oft multidisziplinär arbeiten. Momentan beschäftige mich die Malerei. Dann nenne ich noch den Namen der Vereinsleitung, die ich im Vorfeld kontaktiert habe. (Sie hat sich aber nie zurückgemeldet.)
          Birgits Name schafft schließlich Vertrauen. Die Männer blicken mich erwartungsvoll an.

„Ich hätte gern einen Schuss auf die Leinwand“, sage ich. Sie nicken langsam und ich beginne aus Nervosität von Niki de Saint Phalle zu faseln. Andi, mit der Kippe im Mund, entdeckt, dass ich ja schon das Bild dabei hätte. Dann lässt er mich ohne langes Zögern ins Vereins-gebäude, während sich der andere schnell verabschiedet.
        Durch einen Flur geht es links in einen offenen Vereinsraum mit Tresen. Von dort führt eine Tür zum Kleinkaliberraum mit niedriger Decke. Andi zeigt mir einige durchschossene Zielscheiben aus dem Papierkorb. Die Einschusslöcher sind kaum größer als ausgestanzte Locherlöcher. Man würde es auf dem Bild nicht gut sehen, meint er. Dann führt er mich in den Großkaliberraum im rechten Teil des Gebäudes. Sie schießen hier auf bis zu fünfundzwanzig Metern Entfernung. Die Einschusslöcher, die hier produziert werden, sind daumendick. Das ist schon eindrucksvoller, gebe ich zu. Rasch ist die Entscheidung also getroffen: Ich werde am Freitag wiederkommen, wenn die Großkaliberschützen da sind.
         Wir gehen zurück zum Luftgewehrschießen und ich frage, ob ich noch etwas zusehen darf. Andi nickt, dann gesellt er sich zu einer Gesprächsrunde von älteren Herren am Ende des Raums. Ich sehe zu: Es sind drei Schützen am Werk. Alles Männer. Sie laden ihre Feuerwaffen und zielen auf eine Scheibe in circa zehn Metern Entfernung. Einer schießt freihändig mit einer Pistole. Ein anderer fummelt an seinem Gewehr. Gelegentlich wird eine Zielscheibe über eine Drahtbahn hervorgeholt, um die Treffer genauer zu analysieren. Der Raum bietet Platz für bestimmt zwölf Bahnen. An der Wand gegenüber hängen zahlreiche Zielscheiben: Königsschießen und Jubiläen. Es sind verschiedene Motive aufgemalt, Tiere, Vögel, Bären, Hasen und Hirsche, aber auch einiges Kurioses wie eine Scheibe mit einem Paar auf freiem Feld. Über ihm schwebt ein rotes Herz, in der Ferne ist ein Schloss zu sehen. Obwohl alles sehr klein und fein gehalten ist, ist es einem Amorschützen gelungen, das Herz zu treffen. Die durchlöcherte Spitze einer Kirche im Hintergrund und sogar ein Schuss auf den Brustkorb der Frau zeugt vom Können mindestens eines Teilnehmers — oder war es Zufall? Ich sehe mir alles in Ruhe an und denke, dass ich mit meiner Absicht doch genau an den richtigen Ort gelangt bin.
        Eine Person mit arabischem oder persischem Aussehen wird am Gewehr eingewiesen. Er scheint neu hier zu sein und zum ersten Mal ein Gewehr in der Hand zu halten, gibt sich jedoch Mühe, dies so wenig wie möglich zu zeigen. Der Instrukteur erklärt ihm, wie man das Gewehr richtig an die Schulter legt, um den Rückstoß abzudämpfen. Der Gewehrlauf liegt zur Stabilisierung auf einer Metallstütze auf. Der Instrukteur fährt fort, ihm zu zeigen, wie man das Gewehr lädt.
       In der Traube von Herren tiefer im Raum erzählt ein weißhaariger Mann, dass er seiner Tochter zum Geburtstag eine Feuerwaffe schenken werde. Er nennt Preise von bis zu 20.000 Euro für ein besonderes Gewehr und scherzt in die Runde, dass seine Tochter auf die Frage, ob sie lieber eine Pistole oder ein Gewehr wünsche, geantwortet habe: "Beides!" An mir scheint derweil keiner Notiz zu nehmen.
        Inzwischen hat der Neuling am Gewehr mit dem Schießen begonnen. Der Instrukteur wendet sich mir zu und stellt sich mit Namen Steffen vor. Er scheint bereits von meinem ungewöhnlichen Wunsch wie über ein Pilzmyzel erfahren zu haben und bekundet Neugier am mitgebrachten Kunstwerk. Ich behaupte, dass es noch nicht fertig sei.
        „Da ist man schon etwas neugierig“, wiederholt er mit seiner trockenen Stimme. Seine kühlen Augen lassen sich schwer lesen und seine Mimik lässt keine emotionale Regung erkennen. Im Scherz fügt er hinzu, dass es bestimmt ein Gesicht sei und meint dazu, „Das machen wir gerne.“ Ich lache nervös und sage nur, dass ich bald wiederkommen werde und es mit dem Großkaliber geschehen soll. Wenig später mache ich mich auf den Heimweg.

Am Freitag erscheine ich zum zweiten Mal in der Schützengilde. Natürlich habe ich mir vorher wieder einen Jay reingezogen. Diesmal wird es ernst. Ich komme pünktlich und werde freundlich empfangen. Im Vereinsraum stelle ich das Kunstwerk an der Wand ab. Es werde noch etwas dauern, bis die Schützen bereit sind, teilt mir Andi mit.
        Heute ist mehr los. Diesmal sind auch eine Handvoll Frauen anwesend. Auf zwei Tische verteilt sitzen die Schützen zusammen. Einige spielen Karten.
         Ich folge Steffen auf die Terrasse, um mir eine Zigarette anzuzünden, während ich warte, und beginne ein Gespräch mit einem dicken Raucher, der es sich trotz des zugigen Wetters draußen auf einem Stuhl bequem gemacht hat. Er gibt mir einen Abriss der Geschichte der Gilde, erzählt über ihre Gründung im Jahre 1637 und weist mich auf die Urkunde und zahlreiche Zeitungsausschnitte hin, die den Vereinsraum zieren. Er spricht auch die Schließung der Gilde in der dunklen Zeit an, als die Gleichschaltungspolitik unabhängige Vereine auflöste. Später habe man den Verein mit den eigenen Händen wieder aufgebaut und das Vereinsgebäude durch die tatkräftige Expertise einiger Mitglieder mit eigenen Betrieben in seine aktuelle Form gebracht. Ich frage noch nach Vereinsfesten, und ob es auch einen Tag der offenen Tür gebe, und auch darauf weiß der Mann viel Positives zu berichten. Nachdem meine Zigarette geraucht ist, verabschiede ich mich und sehe mir die Papiere an den Wänden genauer an. So verstreichen einige Minuten, bis mich einer anspricht.
        Ich würde herumstehen wie Falschgeld, meint er und lädt mich ein, Platz zu nehmen. Es ist der letzte an einem runden Tisch. Meine Unbeholfenheit begründe ich mit der Tatsache, dass dies alles neu für mich sei. Vom Tresen aus heißt es dann unvermittelt, der König gebe einen aus. Eine Frau nimmt Bestellungen entgegen, und ich bestelle ebenfalls ein Bier. Die Stimmung ist heiter, und ich gewinne den Eindruck, dass sich alle tatsächlich wie zuhause fühlen. Nur ich bin ein Fremdkörper.

Neben mir sitzt ein älterer Herr, mit dem ich schließlich ins Gespräch komme. Er erzählt mir, dass
er mit einer Winchester schieße und findet, ich sehe aus wie ein Mann für Spezialitäten. Ein Schütze, der aus dem Mantel schießt. Ich muss darüber schmunzeln und gestehe, dass ich von Schusswaffen eigentlich kein Ahnung habe. Am anderen Ende der Tafelrunde kommt man plötzlich auf die russische Invasion der Ukraine zu sprechen. Es ginge vor allem um die östlichen Gebiete, heißt es. Unvermittelt mischt sich da der ältere Herr neben mir ein: Das sei auch richtig so, sie würden dort schließlich auch russisch sprechen. Das Gespräch verstummt daraufhin für einen kurzen Augenblick. Niemand sagt etwas.
       Schließlich taucht Andi auf. Es sei jetzt alles bereit für den Schuss. Er sieht, dass ich ein Getränk festhalte und fügt hinzu, dass es nur kurz dauern werde. Ich lasse also das Bier stehen, greife die Tasche mit dem Bild und folge ihm in den Großkaliberraum.
          Dort treffe ich zwei Schützen, die ihr schweres Gerät bereits entpackt haben.
        „Dann zeig mal her!“, sagt ein Rüstiger mit Glatze. Er scheint der Auserwählte zu sein, der sich bereit erklärt hat zu schießen. Steffen ist ebenfalls im Raum. Er will sich die Szene wohl nicht entgehen lassen.
        Ich ziehe also das Bild hervor und wickle es aus der Malerfolie. Alle sind sichtlich gespannt. Als sie das Bild zu Gesicht bekommen, scheinen ihre Reaktionen dann einzufrieren.
        „Ich sehe zwei schwarze Streifen.“, sagt Steffen trocken.
        Auf eine weiß grundierte Leinwand habe ich mit Nadeln eine schwarze Perücke aufgesteckt und ein eckiges schwarzes Bärtchen darunter aufgeklebt. Der untere Rand des Bildes ist mit roter Ölfarbe beschmiert.
        "Wo soll der Schuss hin?", fragt der Schütze. Niemand kann so recht glauben, was zu sehen ist, und keiner traut sich vom gesetzten Protokoll abzuweichen.
          Ich deute dorthin, wo das linke Auge vorgestellt werden könnte. Der Schütze klebt ohne zu zögern einen schwarzen Zielpunkt auf, den er bereits in der Hand gehalten hat.
     Ich werde aufgefordert das Bild mitzunehmen. Steffen trägt zwei Kisten, auf die das Bild positioniert werden soll. In fünfundzwanzig Metern Entfernung stelle ich das Bild auf die Kisten, und alles ist bereit.
     Als wir zurück hinter dem Schießstand sind, spricht mich Andi an: „Du sagst doch niemandem, dass wir das getan haben?“
        Ich versichere ihm, dass ich die Gilde nicht namentlich erwähnen werde. Die Falten auf seiner Stirn verraten allerdings seine still wachsende Beunruhigung.
    Bevor es nun ans Eingemachte gehen soll, verschwindet die Gruppe beiläufig und nacheinander in einem Nebenraum. Der Schütze geht als Letzter, kann sich in letztem Moment jedoch noch dazu durchringen die entscheidende Frage über die Lippen zu pressen.
         „Das ist doch Adolphine Heisler?“
          Ich bejahe die Frage mit einem unterdrückten Lächeln um die Lippen.
         „Warum das linke Auge?“, fügt er hinzu. Mit einer scharfen Betonung auf dem Adjektiv.
        Ich weiß nicht recht, wie ich darauf antworten soll, und beginne von Ästhetik zu sprechen und darüber, dass es mir um die Erforschung von Ikonografie gehe. Aber mein Gefasel trifft auf taube Ohren. Der Mann verschwindet wie seine Kollegen vor ihm im Nebenraum.

Ich kann ihre Gesichter durch eine Glasscheibe sehen. Sie sind ernst und werden immer düsterer. Ich kann nicht hören, was sie sagen. Aber es scheint vor allem der Schütze zu sein, der sich in einem Redeschwall ergießt.
        Nach einer Weile kommt Steffen heraus. Sie machen es nicht. Der Schütze würde das Ziel verfehlen und das Bild zerstören. Ich bin fassungslos.
        Steffen drückt mir zwei Hülsen in die Hand. Damit könne ich mit einem Hammer selber tätig werden. Sogar Schmauchspuren wären auf dem Ergebnis zu sehen.
         Ich sage, mir sei es egal, ob er daneben schieße oder das Bild zerstört würde. Es gehe mir um den Prozess.
       Keine Chance. Ich soll das Bild wieder holen. Die Überraschung lähmt mich für einen Augenblick und mir schießt ein Gedanke durch den Kopf: Sie werden auf mich schießen, wenn ich das Bild hole. Dann leuchtet mir die Absurdität des Gedankens ein, und ich hole das Bild von den Kisten — doch mit weicheren Knien.
       Die Stimmung ist wie verwandelt und hat sich in einer kompletten Drehung gegen mich gekehrt. Ich denke, ich trete vielleicht nicht ernsthaft genug auf. Ich muss den Elefanten im Raum ansprechen. Es hänge doch mit dem Bild zusammen, konfrontiere ich Steffen.
         „Das auch“, bestätigt er. Er sagt, sie fänden das gut, aber es sei eine politische Aussage, und als Verein würden sie sich jeder politischen Aussage enthalten wollen.
       Dann werde ich von ihm sofort vor die Tür gesetzt, die sich hinter mir unwiderruflich schließt. Schade.

Ein zweites Mal mache ich mich auf den Heimweg. Diesmal mit einem schwarzen Auge im Gesicht der Ikone. Es sieht ganz süß aus, denke ich, als ich mir das Porträt zuhause ansehe.

Ich erzähle die Begebenheit meinen Freunden, die alle begeistert sind. Sie finden die Geschichte lasse das Werk in einem anderen Licht erscheinen. Ich beschließe jedoch, es dabei nicht zu belassen. Ich muss es erneut versuchen. Es muss doch möglich sein, den Schuss zu bekommen.

Als die Weihnachtszeit naht, rufe ich im Schützenverein meiner Heimat an. Und tatsächlich: Ein Jäger in Rente erklärt sich bereit, den Künstler zu treffen. Vielleicht küsst mich bald die Glücksgöttin.

Mein Großvater hatte mir oft erzählt, dass man im Dorf genau gewusst hat, wer nicht für Hitler gestimmt hatte. Es waren zwei im gesamten Dorf. Ein Nazi-Dorf wie es im Buche steht... Und da stand nun der gutmütige, hilfsbereite Jäger und schoss ohne viel nachzudenken point blank ins linke Auge der Hitlerikone. Der Stoff riss auf und bildete ein vergrößertes Loch, das bis nach rechts die Leinwand waagrecht zerriss. Der Mann meinte noch, ob ich nicht enttäuscht wäre, und entschuldigte sich, dass er nicht daran gedacht hatte, ein Holz hinter die Leinwand zu klemmen, um den Riss zu verhindern. Aber ich versicherte ihm, dass ich ohne Erwartung gekommen und vor allem dankbar für seine Bereitschaft war.

Befriedigt fuhr ich nach hause. Wir hatten den Hitler fertig gemacht.


Zurück zum Seiteninhalt