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Jari Niesner: Ein ungehöriges Höhlengleichnis

Montags=Text
Foto: A. Kerber
Jari Niesner

Ein ungehöriges Höhlengleichnis


„Für die Wahrheit der Welt hat nur Verstand, wer ihn verliert.“
Paul Celan zugeschrieben

Über eine verhältnismäßig lange Zeit hatte sich auf einem kugelförmigen Planeten eine seltsame Spezies lebendiger Kreaturen entwickelt. Der Planet, den sie mit einem Wort für "nahrhafte Erde" bezeichneten, war einer besonders hohen Sonneneinstrahlung ausgesetzt, sodass sich die Augen der Kreaturen über die Jahrhunderte ausgebleicht hatten und weiß geworden waren. Diese Veränderung war so langsam und schleichend vonstatten gegangen, dass sie sich immer noch für sehend hielten, obgleich sie längst völlig blind auf der Oberfläche des Planeten umhergingen. Die Gewöhnung hatte sie indes so sehr mit ihrer hellen Umgebung vertraut gemacht, dass sie sich mit der größten Souveränität bewegten und kein Sehender hätte ihr sinnliches Urteilsvermögen wirklich bezweifeln können. Ihr Wissen des Planeten und aller Geschehnisse darauf war der-art umfassend und vollständig, dass es ihnen sogar möglich war, die Zukunft bis mehrere Wochen im Voraus nahezu exakt vorherzusagen. Sie veranstalteten auf jährlich wiederkehrenden opulenten Festenwochen sogar ausgedehnte Wettstreite unter den besten „Morgensehern“, wie sie sie nannten, um diejenige Person neu zu küren, welche die Zukunft am genauesten prophezeit hatte. Ihre Spezies bezeichneten sie in Abgrenzung zu anderen Kreaturen auf dem Planeten als "höhere Wesen", weil sie sich — durchaus nicht ganz zu unrecht — in Besitz eines unfehlbaren Verstandes glaubten.
      Ihr gesellschaftliches Leben war äußerst ruhig und friedlich. Sie kannten weder Krieg noch Missgunst, alle Grenzen waren aufgehoben und jede Person lebte nach ihren Bedürfnissen — immer im Bewusstsein um das Wohl der Gemeinschaft. Die Gleichförmigkeit ihrer gläsernen Existenz gab ihnen untereinander Halt und die Bahnen, auf denen sie sich bewegten, entsprachen zweifellos ihrem weiten Horizont. Sie kannten keine Reue und hatten keine Geheimnisse voreinander, denn jedes Individuum befand sich genau an dem Ort, an den es gehörte. Diese Tatsache gab den Geschöpfen einen Sinn von Bestimmung und erhellte ihr Wissen um die Bedeutung. Ein Schelm hätte sie in dieser unerschütterlichen Welt vielleicht für Gefangene gehalten, aber tatsächlich lebten sie in einer Welt ohne politischen Zwang, ohne Scham, Depression oder Einsamkeit. Sie bereisten den gesamten Planeten, auf dem selbst der scheinbar unberührteste Fleck kartografiert und eingeordnet war, und es gab keine tiefen Unterschiede zwischen ihnen. Im Grunde geschah nichts Unerwartetes — oder zumindest nichts, was im Nachhinein nicht ins richtige Licht gerückt werden konnte. Die Sonne diente ihnen als ewige Energiequelle und Inspiration. Im Alter wurden sie schließlich müde und schwach und eines Tages starben sie. Doch ihre Art hatte es geschafft, sich immer wieder zu erneuern. Wie auf eine Blaupause übertrug sich ihr Wissen auf die nächste Generation und von dort auf die übernächste. Dadurch lebten sie stets in der Hellsicht ihrer Ahnen und gingen durchaus stolz einer Zukunft der Entwicklung entgegen.
     Hier hätte nun diese Erzählung bereits enden können. Auf bizarre Weise muss sich jedoch etwas äußerst Unwahrscheinliches ereignet haben, denn eines Tages wurde eines der Wesen von einer absonderlichen Krankheit befallen.
     Die Krankheit zeigte keine sichtbaren Symptome — nicht, dass irgendjemand über-haupt etwas bemerkt haben könnte. Sie kam plötzlich und unvermittelt — und scheinbar nur durch einen unmöglichen Zufall fiel es dem Befallenen überhaupt selber auf. Dem unglücklichen Wesen war eines Nachmittags bei einem Ballspiel aufgefallen, dass es den Ball gar nicht sehen konnte. Vielleicht durch eine geheime Drehung der Gestirne oder durch eine Deformation des Gedächtnisses schien es ihm nun deutlich, als ob sie das Spiel in ihrem Kreis immer auf diesselbe Weise spielten und sich dabei im Wesentlichen auf einige abgemessene Abmachungen stützten, die sie in einer lange vergessenen Vergangenheit einmal getroffen haben mussten und auf die sie sich nun verließen. Um sich zu vergewissern, dass die anderen nichts von der plötzlichen Veränderung, die sich ihm ereignete, bemerkt hatten — vielleicht aus Scham darüber, obwohl es das Wort dafür nicht kannte —, stellte es ihnen zögernd allerhand Fragen. Die seltsamen Krankheit schien jedoch nur das unglückliche Wesen zu betreffen; den anderen hingegen schien es unbedingt klar, dass der Ball rot war. Welche Farbe sollte er auch sonst haben? Überhaupt waren sich alle in allen Dingen stets einig. Sie machten sich über das fragenstellende Wesen sogar ein wenig lustig, denn ihnen erschienen seine Fragen recht unsinnig: Es war doch alles offensichtlich. Also schwieg das erkrankte und sie fuhren mit der Partie, wie gewohnt, fort.
        Doch seither hatte sich das Wesen unwiderruflich verändert. Tatsächlich sah es selbst nach und nach überhaupt nichts mehr und hatte Mühe, dies vor den anderen verborgen zu halten. Es hielt sich nun für vollkommen blind. Trotz der Entdeckung seiner Krankheit ging das Wesen zunächst seiner gewohnten Existenz nach; jedoch fiel es ihm zunehmend schwerer, denn die Blindheit griff immer mehr um sich. Überdies bildete es sich Dinge ein und litt an Halluzi-nationen. Es fiel daher auch zunehmend aus seiner Rolle und ging seinem ursprünglichen Weg nur noch aus mühevoller Notwendigkeit nach, um seiner Umgebung nichts anmerken zu lassen. Denn bei bestem Willen konnte niemand für das erblindete Wesen Verständnis aufbringen und seine Artgenossen begegneten ihm mit Ungeduld und sogar Arroganz, wenn es vorsichtige Andeutungen nur bezüglich der eigenen Sehunfähigkeit machte, geschweige denn Nachfragen über das Augenlicht der anderen stellte. Es blieb sich dabei stets unsicher darüber, woher alle ihre Überzeugungen eigentlich nahmen und warum ausgerechnet ihm dies unglückliche Schicksal, nichts sehen zu können, zuteil werden sollte. Es erfuhr sich als hinausgeworfen aus dem runden Markt der sozialen Koexistenz und zur Suche nach dem eigenen Verschwinden verdammt. Und die bohrenden Fragen nach den Ursachen der Situation, in der es sich befand, nagten immer gieriger an seinem Gemüt.
       Die Krankheit zur Blindheit fügte es nun, dass das Wesen allmählich weiter vom Weg ab-kam und sich schließlich in Gebieten wiederfand, die wegen ihrer geistlosen Ödnis von den meisten gemieden wurden. Dort entdeckte es auf seinen immer länger werdenden Wanderungen eines besonderen Tages an einer Böschung eine tiefer gelegene Höhle, aus der irisierende Dämpfe drangen. Aus Neugier tastete es sich näher heran und nach einigem Zögern sprang es kurzerhand hinein — oder vielmehr fiel es, da es durch die Krankheit geschwächt und gesichtslos war.
         Durch den Sturz muss es wohl einige Zeit bewusstlos geworden sein. Denn als es wieder zu sich kam, fand es sich in einem unterirdischen Tunnelsystem wieder, ohne dass es mehr als schleierhaft nachzuvollziehen vermochte, wie es dorthin gekommen war. Zunächst erschien es ihm, als sei die Nacht um es herum noch finsterer und düsterer als an der Oberfläche. Doch plötzlich geschah etwas Unerklärliches: In der Dunkelheit konnte das Wesen plötzlich sehen. Und als ihm die weißen Augen schließlich ganz aufgingen, entdeckte es eine Welt, die beinahe haargenau der Welt entsprach, die es an der Oberfläche verlassen hatte. Nur jene befand sich unter der Erde und glänzte in einer Deutlichkeit, wie es das Wesen niemals zuvor erlebt hatte — hatte es doch bisher überhaupt nichts gesehen. Der deutlichste Unterschied schien ihm darin zu bestehen, dass die unterirdischen Kreaturen wirklich sehend zu sein schienen. Die Dunkelheit störte sie nicht im Geringsten, sondern schien sie im Gegenteil auf leichten Füßen zu tragen. Sie bewegten sich nicht auf vorgefassten Bahnen, wie dies die Kreaturen überirdisch taten, sondern schienen auf seltsame Weise ihre Wege selbst zu suchen. Dem Fremden gegenüber begegneten sie gleichgültig, aber durchaus nicht abweisend, und so fühlte es sich eingeladen zu verweilen. Es begann sich allmählich näher in die Betrachtung seiner unverhofften Entdeckung zu vertiefen, und mit dem Verweilen und Schweifen seines neu gewonnen Blicks wuchs auch seine Faszination. Ein großes Erstaunen machte sich in ihm breit. Die Kreaturen unter der Erde wirkten auf es wie entfesselt. Kinder spielten mit Sand, Gaukler warfen kunstvoll Bälle hin und her und zauberten Schattenspiele an die Wand, die sich von ihren Händen lösten und wie von selbst über die Wölbungen der Höhle zu tanzen schienen. Alles wirkte auf ihn in dieser seltsamen Dunkelheit wie unverborgen und offen daliegend. Nicht Licht, von dem es oben zu viel gab, sondern sichtbare Dunkelheit durchflutete die Höhlenwelt und es gab in der Tat so viel zu entdecken, dass sich das Wesen in einer ständigen Spannung befand, wodurch seine Sinne enorm ge-schärft wurden. Einmal beobachtete es, wie eine Kreatur eine andere mit einem spitzen Gegenstand stieß und woraufhin letztere zu Boden stürzte. Das Gesicht der ersten Kreatur war dabei leidenschaftlich verzerrt. Ein anderes Mal beobachtete das Wesen eine Szene, in der eine der Kreaturen eine andere mit einem Leinensack einfing und in ein Versteck zerrte. Auf vieles konnte es sich zunächst keinen Reim machen, sah aber fasziniert zu und schweifte von einer Szene zur nächsten. So verbrachte es lange Zeit.
        Schließlich ergab sich, dass das Wesen nach einiger Zeit in der ungewöhnlichen Wohnung etwas entdeckte, das seine Sinne dermaßen erschütterte, dass es sie nicht mehr loslassen sollte. In einer dunklen Ecke fand es eine lebendige, sich immer neu formende Gestalt aus glänzendem Ton, die ihm seltsam ähnlich und zugleich äußerst verschieden vorkam — vielleicht könnte ihre Wirkung, wie in der Physik, als die einer positiven auf eine negative elektrische Ladung beschrieben werden. Es schien eine magische Anziehung davon auszugehen, und es spürte eine unendliche Kraft aus der Gestalt hervorbrechen, die es in einen bezaubernden Bann zog wie ein betörendes und zugleich beruhigendes Parfüm. Ein Gefühl von grenzenloser Freiheit und erhebendem Glück durchströmte es bei ihrem atmenden Anblick. Obwohl dies bewegende Etwas in völliger Dunkelheit erstrahlte, wurde das Wesen durch seine Kraft geblendet — oder vielleicht lässt es sich vorstellen wie ein absorbierende Sog von tiefem Schwarz. Das schreckliche Angebot der Freiheit, die dieser unendliche Blickraum darstellte, übertraf jedenfalls alles bisher von ihm Geschaute. Verdarb es darin, oder wurde das Wesen durch diese Umlenkung der Seele gar erst wirklich mit den Augen fündig? Das nie-gesehene Ding war nicht recht auszumachen und doch gelang es dem erstaunten Wesen durch erneute und ständige Versuche des Blickens, sich der kraftvollen Magie hinzugeben, die es aus der Gestalt fast gewaltsam berührte. Es dachte, es müsse sich hier um das Schöne selbst handeln. Hätte das Wesen einen Begriff von Göttlichkeit oder Gottheit gehabt, sicher hätte es diesen verwendet, um seine Erfahrung annähernd zu beschreiben. Der kristallene Geschmack der Berührung mit diesem Unbekannten drang tief. Überglücklich und zugleich erschreckt über die unumkehrbare Verwandlung, die in ihm geschehen, verweilte es immer länger im Anblick dieser übersinnlichen und unbeschreiblichen Gestalt. Es lässt sich nun nicht genau sagen, was dies Geschaute und so Geachtete eigentlich gewesen war. Es lassen sich nur Mutmaßungen darüber anstellen. War es, was das Wesen heimlich am meisten begehrt hatte? War es irgendein seltenes Geheimnis, dem es zeitlebens doch unbewusst auf der Spur gewesen war? Oder war es eine plötzliche Erkenntnis, eine erschütternde Einsicht, die sich ihm unvermittelt und unerwartet geöffnet hatte?
         Es ist gut möglich, dass dies Geschaute nur auf es so wirkte und sonst kein anderes Wesen zu sehen vermochte, was es in diesem lange währenden Augenblick erlebte. Das Innere ist nicht sichtbar. Tatsache ist jedoch, dass das Wesen mitten in der Entrückung zusammengebrochen sein muss und sich schmerzverzerrt um die eigene Brust krümmte. Jedenfalls fand man es auf diese Weise gestorben.
     Hätte ihm jemand zuhilfe kommen sollen? Hätte es von der tödlichen Fesselung an eine private Schönheitsleidenschaft befreit werden können? Lag sein Tod darin, dass die beiden Welten, die es entdeckt hatte, voneinander auf ewig geschieden waren? Gab es grenzenloses Sehen ohne blinde Flecken? Oder hatte es sich am Ende nur verirrt und war schlicht verrückt geworden, weil es etwas entdeckt hatte, das den eigenen Horizont sprengte?
    Dies alles ist nur eine Ahnung oder Hoffnung nach den milder werdenden Kümmer-nissen eines unerklärlichen Todes. Das Gleichnis ist mir in einem wilden Schlaf gekommen und ich bin mir jetzt, da ich es erzählt habe, nicht mehr sicher, ob es mir gelungen ist. Teile davon habe ich wohl aus einem alten Buch, das ich vor dem Entschlummern las. Aber ich kann mich nur bruchstückhaft daran erinnern. Vielleicht ist alles nur ein verschrobenes Märchen.


Jari Niesner
https://www.instagram.com/jari.punkt/


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