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Jan Wagner: zwei städte

Gedichte > Münchner Anthologie

Jan Wagner

zwei städte


zwei städte, seit jeher verfeindet, jede auf ihrem gipfel, der anlaß – vergessen, doch irgendwo zwischen  den  mauern  zuckt ein samenkorn, will wurzeln schlagen.

die massigen   körper der  kühe von so weit oben,  winzige  punkte aus weiß;  der wind, der an den feldsteinkirchen kaut. die kühe von so weit oben

sind zart und zerbrechlich wie sanduhren, rieseln, fließen aus in ihre schatten, ins schwarz, das wächst  und  wächst, endlich die gipfel erfaßt.

zwei städte, jede für sich, funkelnd und kalt wie gebirgsseen. nachts der schlaf  mit  dem rupfen  von gras, dem  schnauben dicht am grund.



In: Jan Wagner: Regentonnenvariationen. Berlin (Hanser Berlin) 2014

Wolfram Malte Fues



„It was the best of times, it was the worst of times, it was the age of wisdom, it was the age of foolishness …” beginnt Charles Dickens 1859 erschienener Roman A Tale of Two Cities. London und Paris, jede auf dem Gipfel ihres Geltungsbewusstseins, jede mit der anderen verfeindet, aber jede des Anlasses bewusst und ihn in je anderer Weise immer wieder vergegenwärtigend.

Wagners Gedicht besteht aus vier Strophen zu je zwei Vollversen und einem Halbvers, so an die in der deutschsprachigen Lyriktradition gebräuchlichen Odenmaße erinnernd, aber keines tatsächlich erfüllend. Am nächsten liegt der hier verwendeten Form die Erste Asklepiadeische Strophe – allerdings mit einigem Abstand. Der Halbvers der zweiten Strophe lässt sich als Adoneus, der vierte Vers der Sapphischen Strophe lesen, derjenige der dritten ebenfalls, allerdings nur gegen den natürlichen Sprach-Rhythmus. Im Versmaß herrschen Daktylen über gelegentliche jambische Einschlüsse. Der dritte Vers der ersten und der zweite Vers der zweiten Strophe taktieren jambisch. Die „zwei Städte“ stehen spondeisch an Anfang des ersten Verses der ersten und der vierten Strophe, das Gedicht rhythmisch sinngebend umklammernd. Der Spondeus erscheint noch einmal am Ende des zweiten Verses der dritten Strophe, worauf bei der Inhalts-Analyse zu achten sein wird. Das Gedicht schließt mit einem der Antike entlehnten Versfuß: dem Creticus. Es entwickelt überdies eine eigene Phonologie der Vokal-Komposition und nutzt Alliteration, Assonanz, Binnenreim.

Mit der Bezugnahme auf antike Formen legt sich der Text die Strenge des Begriffs, die Schärfe der Unterscheidung auf, die antike Lyrik seit ihren Anfängen kennzeichnet: „An sich selbst soll man bei jedem allemal die Grenze sehen (
)“, so Pindar in der 2. Pythischen Ode. Sehen wir also zu, ob und wenn ja wie das Gedicht seiner selbst gestellten Bedingung gerecht wird.

I. Hypothesis. „zwei städte, seit jeher verfeindet, jede auf ihrem gipfel, der / anlass – vergessen.“ Jede Stadt auf einem Gipfel, aber jede auf ihrem. Jede Stadt der je anderen vollständig gleich, aber ebenso vollständig entgegengesetzt, jede auf einem alle Täler und Tiefen beherrschenden Höhepunkt, jede auf die vollständige Verneinung und Vernichtung der anderen aus, die ihr den Allgemeinheitsanspruch bestreitet. Jede aber eben darin von der anderen ex negativo anerkannt und bestätigt, erweitert und befestigt. Zwei Städte führen mit einander die Urgeschichte des theoretischen Denkens vor, das unendliche Drama der Reflexion, wie es in Griechenland sich entwickelt hat: Wasser oder Feuer? Sein oder Nicht-Sein? Der Anlass vergisst sich in diesem Spiel. Es hat keinen. Es veranlasst sich selbst.

II. Thesis. „die massigen körper der kühe von so weit oben, winzige punkte / aus weiß.“ Alles Einzelne nimmt sich vom Gipfel der Allgemeinheit, auf dem beide Städte jede der anderen gegenüber liegen, wie eine schlechte, mannigfach zerstreute, farblos alle Farben einschließende Vielheit bloß punktuellen Da-Seins aus. (Aber warum gerade Kühe? Dazu kommen wir noch.)

III. Peripetie. „die kühe von so weit oben // sind  zart und zerbrechlich wie sanduhren, rieseln,  fließen aus / in ihre schatten, ins schwarz, das wächst und wächst, endlich / die gipfel erfasst.“ Für Blick und Begriff „von so weit oben“ wiederholt das punktuelle Da-Sein die Entgegensetzung der Reflexion, aber seiner zerstreuten Vielheit wegen nicht als Entgegen-Setzung, sondern als Zer-Setzung, als rieselndes Auseinander- und Ineinander-Fließen; Sandkorn um Sandkorn, womit es die Zeit des Ver-Gehens und Vor-Gehens schafft, während die Reflexion auf ihrem Gipfel ein zahlloser Augenblick bleibt. Als rieselndes Auseinander- und Ineinander-Fließen wächst die da-seiende Vielheit in den Schatten ihrer Selbst-Verneinung, aus der Farblosigkeit, die alle Farben einschließt, in die Farblosigkeit, die alle Farben tilgt, „wächst und wächst“, wächst über sich hinaus, bis sie, endlich im Unendlichen endend, „die gipfel erfasst“. - Wohin ist das Gedicht nun gekommen? Dahin, „sein Absolutes für die Nacht auszugeben, worin, wie man zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz sind“? (G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Vorrede)

IV. Anagnorisis. Nicht ganz. Nicht vollständig. „zwei städte, jede für sich, funkelnd und kalt wie gebirgsseen. / nachts der schlaf mit dem rupfen von gras, dem schnauben / dicht am grund.“ Aus der Nacht des Absoluten tauchen die Härte und Schärfe der Reflexion ge- und verstärkt wieder auf, „funkelnd und kalt wie gebirgsseen“. Aber die schwarze Nacht, die den Grund jener kalten Helligkeit ausmacht, erschöpft sich nicht in deren Begründung. In ihrem Schlaf ist das da-seiende Einzelne wach und wahrnehmbar geblieben, „mit dem rupfen von gras, dem schnauben / dicht am grund“, dicht an ihrer absoluten Begründungsmacht: also schließlich Voraussetzung, Bedingung, Prinzip für die Hoheit und Souveränität des Allgemeinen und keineswegs bloß sein verächtlicher Ab-Fall?

Ist damit der Sinn des Gedichtes getroffen, erschöpft? Getroffen ist ein Angebot in der Sinn-Auslage des Textes, einer jener „winzige[n] punkte aus weiß“, die das Feld der Reflexion zwischen deren Allgemeinheits- und Allmachts-Gipfeln markieren und strukturieren. ‚Feld‘ in Analogie zur Physik hier verstanden als „die Gesamtheit der Werte einer“ logischen „Größe, die Raumpunkten zugeordnet werden, ohne dass dort ein materieller Träger vorhanden sein muss“ (Friedrich Cramer, Chaos und Ordnung). Erschöpft wäre der Sinn des Gedichts, wenn seine Auslegung jeden seiner „winzige[n] punkte aus weiß“ und damit die Gesamtheit seines Deutungs-Werts beträfe.

Wird damit das Gedicht unerschöpflich? Nein. Es bleibt formal und inhaltlich in die Reflexion geschlossen und lässt diese seine Grenze überall sehen. Wie es sich ansieht, scheint es sie auch selber zu sehen. Bringt „der wind, der an den feldsteinkirchen kaut“, noch etwas anderes mit als Erosion? „irgendwo zwischen den mauern zuckt / ein samenkorn, will wurzeln schlagen.“ Irgendwo. Überall. In dieser und in jener Stadt. Schlägt Wurzeln, wächst, bildet Stamm, Zweige, Blätter, (Flug)samen. Legt das Gedicht in seinen Grenzen die Spur seines Gegen-Gedichts? Auffordernd, zu lesen, was nicht geschrieben wurde, aber sich schreiben ließe?
Lesend?


Basel, Ende Dezember 2015

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