Jan Röhnert: Erdtagzeit
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Stephan
Turowski
Jan
Röhnert: Erdtagzeit. Gedichte. Frankfurt a.M. (Edition Faust) 2023. 120 Seiten.
20,00 Euro.
Das
Licht in den Blättern
Zu
Jan Röhnerts Gedichtband Erdtagzeit
Vor
beinahe zwanzig Jahren, im Frühjahr 2005, erschien, als erster Band in der neu
entstandenen edition Azur, ein erstaunliches Langgedicht: Die Hingabe,
endloser Kokon – als Leser, als Zeitzeuge dieses poetischen Aufbruchs in
die heilenden wie heillosen Verstrickungen aus Verlangen und Verlusten, aus all
den unvermutet aufleuchtenden Erstaunlichkeiten in Landschaften, Metropolen, Filmen,
Musik und Lektüren, den so unwiderstehlichen wie faden-scheinigen Sinnlichkeiten
zwischen den Leibern der Liebenden, war einem nach der Lektüre damals sofort
klar, dass mit diesem Buch Jan Röhnerts, seinem zweiten nach dem Debütband Burgruinenblues,
ein neues, anderes Sehen in der Dichtung der Gegenwart auf zwingende Weise
Gestalt angenommen hatte. Seitdem wird dieser Kokon von Röhnert, in all seinen
daraufhin veröffentlichten Bänden, mit immer weiter zunehmender Formen- und Wahrnehmungsvielfalt,
weitergesponnen, und hiervon zeugt auch der unlängst erschienene Gedichtband Erdtagzeit.
Weitergeführt,
und nun auch in kleinsten lyrischen Formen wie dem Haiku realisiert, wird in
diesen neuen Gedichten die Röhnert eigene Kunst der Zusammenschau, der Synchronizität
auf den ersten Blick scheinbar nicht zusammenhängender Kon-stellationen und
Phänomene: Land- und Liebschaften, Epochen und Erdzeitalter werden – sowohl mittels
weitausschwingender Verse als auch in den blitzhaft aufleuchtenden Epiphanien durch
gekonnt verknappte Fügungen – mit cineastisch geschulter Präzision übereinander
geblendet: „Ein Lied der Atmosphäre, das, kehrt es // zu dir zurück, nicht
wiederzuerkennen ist, / es ging durch Vogelschwärme, Lindenwipfel, Wolkenformen,
// bis es auf deinem Lippenpaar gelandet ist, / das mir nun den Atem verschlägt“
(In der Sonne ihre Transparenz).
Es
ist genau diese Art von methodischer Sinnlichkeit, die einem als Leser immer
wieder neue Horizonte erschließt, erhellende Zusammenhänge zwischen Innen und
Außen, zwischen Jetzt und Immer entdecken lässt: Röhnerts Gedichte sind immer
auch Versuche über das Glück einer paradoxen Form von Gleichzeitigkeit – das
Glück, etwas zu sehen, das in dem Moment, in dem es sichtbar wird, bereits
wieder verschwunden ist oder sich auf einmal in etwas anderem, dem Geruch von
Brot, dem Flügelschlag der Mauersegler über dem Haus oder dem Ruf des Muezzin inmitten
des Straßenlärms von Kairo zu materialisieren beginnt: „Über den Baumkronen,
verbrannt, flimmert eine andere Welt, die / man nicht sehen kann. Es geschieht
nebenan. // Der Sommer, die Drossel, der Wiedehopf, der Specht. Jemand / hat
angeklopft und die Tür aufgemacht. // Sie ist offen, angelehnt, und die
Nachrichten von der Welt / nebenan sickern durch: beim ersten Wort fällt sie
zu.“ (Die Nachrichten von nebenan).
Zugleich
sind diese Gedichte auch höchst komprimierte Wissensspeicher, die davon zeugen,
in welchen epistemologischen und medialen Zusammenhängen zwischen Poesie, Songs,
Filmen und Malerei Röhnert seit jeher kundig unterwegs ist; doch all dieses
Wissen ist kein Selbstzweck, sondern dient als Fundament einer Hingabe an die
unauslotbare Vielfalt der Phänomene und Ereignisse, ermöglicht durch sein sich in
diesem Band noch weiter verfeinertes mikroskopisches Erforschen und Erblicken der
Natur, so etwa der Felsen, Klüfte, Gesteine, Blüten und Blumen seiner
Kindheitslandschaften: „wir sagen Schleuse, sehen Löcher, / durchscheinendes
Blau über den Gräben, / in dem Luft und Land verschwinden / und der
Zwischenraum der Zäune / und die Schleuse ist ein Wasserlauf // der hinauf
reicht aus dem Hintergrund / über Zäune, um dem Sehen Löcher, / im Blau
verschwindend einen Weg zu graben.“ (Himmel, Anker, Münde). Die Gedichte
in Erdtagzeit sind immer unterwegs, machen immer weiter im Sinne Rolf
Dieter Brinkmanns, führen uns über die Kindheitsdörfer Röhnerts hinaus in die
Ferne der Metropolen wie Kairo, Zagreb und Teheran, hüllen alles Erlesene und Erlebte
in ihren herrlich endlosen Kokon.