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Jan Kuhlbrodt über Büchner

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Jan Kuhlbrodt


"Die Kategorien sind in einer schändlichsten Verwirrung ..."

über Georg Büchner


Es scheint mir schwierig, im Augenblick über Büchner zu schreiben, ohne wenigstens ein wenig die Fassung zu verlieren. Als musste die Polemik den Platz freischaufeln, der voller Trümmer liegt, als sollte sie zuallererst Sichtachsen schaffen.
Dabei war dieser Name und dieser in meiner Jugend, so vor dreißig Jahren, doch überall präsent. Woyzeck war eines der ersten Stücke, das genannt wurde, wenn die Frage nach einem bedeutenden deutschen Theaterstück fiel. Das mag damit zusammengehangen haben, dass das Projekt Aufklärung noch nicht ganz abgeschrieben war, sondern in jeweils pervertierter Form von den politischen Blöcken gegeneinander in Stellung gebracht wurde, wie die jeweiligen Atomraketen. Fast kann man sagen: Büchner gehörte in beide Arsenale. Und er scheint: ein wenig zumindest, mit den Arsenalen verschwunden zu sein. (Igor Bulatovsky, ein Kollege aus Petersburg, berichtete mir kürzlich von der Übersetzung der Novelle Lenz ins Russische, was mich veranlasste, wieder einmal einen Blick in dieses Werk zu werfen, und das meinen Atem stocken ließ, wie bei der ersten Lektüre dieses Stückes deutschsprachiger Prosa, das zum schönsten gehört, was in dieser Sprache geschrieben wurde:

„Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf- bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte.“


Und was passierte, nachdem sich die Blöcke aufgelöst hatten, beziehungsweise der Ostblock in sich zusammengefallen war, und man hätte Büchner der ideologischen Umklammerung entreißen können? Nichts dergleichen! Religiöser Fundamentalismus und Neokonservativismus bekamen plötzlich einen Raum, den man ihnen nicht mehr zugetraut hätte. Die Büchner-Rezeption zog sich in Klassenzimmer mit inzwischen Altachtundsechziger Lehrern zurück, was ihrer Dynamik nicht unbedingt gut bekam. Ein Blick auf die aktuell lieferbare Sekundärliteratur bei Amazon lässt einen erschütterten Autor zurück, und ein Buch mit dem Titel „Büchners Frauen“ kommt mir nicht ins Haus. Nie! Aber auch in die „Geschichte eines Genies“ werde ich keinen Blick werfen. In Springers Welt dieser Artikel: ein Geburtstagsgruß wohl: „Georg Büchner, ein Frauen-Flachleger vom Dienst? Das Notenblatt in der Hand des jungen Mannes, dessen Porträt sich auf einem Gießener Dachboden fand, ist von schlüpfriger Eindeutigkeit. Zeigt es den Dramatiker Georg Büchner? Die Experten rätseln.“ Springers Onlinemagazin at its best. Die Experten rätseln. Was sollten sie auch sonst tun bei der misslichen Quellenlage, die bei jeder Besprechung einer neuen Büchner-Biografie beschworen wird. Denken am Ende? Der Verweis auf eine schlechte Quellenlage scheint mir die Generalausrede akademischer Borniertheit zu sein. Wie sollten wir wissen, was wir wissen, wenn wir es nicht durch einen Verweis belegen können?

Mir persönlich reicht die DTV-Ausgabe mit Werken und Briefen, um mein Denken in Bewegung zu halten, gerade diese Ballung von Naturwissenschaft, Politik, Philosophie und Dramatik auf derart engem Raum ist faszinierend. Auch die Brieffragmente. Büchner hält sich darin selbst am Leben und seine Gegenwart scheint von der meinen nicht allzu weit entfernt. Abgesehen davon würde er sich garantiert in die Hirnforschungsdebatte einmischen, in diese Diskussion der Frage, ob Freiheit überhaupt möglich sei. Im Woyzeck spielt er das durch. Wenn einem aber die Natur kommt? Und Michael Hagner zitiert in seinem Buch Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitegehirnforschung (Göttingen 2004) Dantons Tod:

Wir müssen uns die Schädeldecken aufbrechen und uns die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren. ...
Geläufig waren zum Zeitpunkt von Dantons Tod die schon erwähnten galvanischen Experimente von abgeschlagenen Köpfen, auf die Büchner mit seiner brutalen Cerebroskopie anspielt. (a.a.O. S.119)


Darüber hinaus besitze ich eine Ausgabe mit Büchners Werken aus dem Reclam Verlag Leipzig von 1979, die auf dem Vorsatz den Stempel der Doktor Theodor Neubauer Oberschule Karl-Marx-Stadt trägt. Ich muss sie damals mitgehen lassen haben, als ich mich dort mit meiner Deutschlehrerin herumärgerte. Unter dem Stempel ein weiterer Stempel: „Bitte sauber halten und pfleglich behandeln.“ Ich werde mich bemühen, aber versprechen werde ich nichts.

Der Schluss von Dantons Tod:


Ein Bürger: He Werda?
Lucile: Es lebe der König.
Bürger: Im Namen der Republik
(sie wird von der Wache umringt und weggeführt)


Ich gebe nicht viel auf runde Geburtstage und Jahrestage aller Couleur, dazu hatte man mich in meiner Kindheit doch allzu sehr mit Zwangsfeierlichkeiten überfrachtet, ständig rundete sich etwas, ein Krieg, eine Revolution, eine Entdeckung, eine Gründung, immer mit beträchtlicher Bedeutung hinsichtlich eines inzwischen vergangenen Fortschritts. Dass in diesem Jahr Richard Wagner und die sogenannte Völkerschlacht ein 200jähriges Jubiläum begehen, hätte mir nicht entgehen können. Auch wenn ich 200 Meter unter der Erdoberfläche in einem Bunker gesessen hätte; hier in Leipzig, dem Geburtsort des erwähnten Musikanten und dem Sterbeort ungezählter Soldaten, Zivilisten und von Pferden auch, wäre es mir lautstark zu Ohren gekommen, zumal einige Volkskünstler sich ja nicht davon abhalten lassen, das Schlachten in jedem Jahr nachzuspielen, in aufwendig gearbeiteten Kostümen.

Das erste Mal in der Geschichte übrigens wurden in der Leipziger Schlacht von 1813 in großer Zahl Raketen eingesetzt. Wie nah wir uns doch noch immer sind. Während also das bis dahin größte Schlachten Europas in Gang war, kam im hessischen Goddelau (also auf französischer Seite im Grunde) Georg Büchner zur Welt.

Der Herr, der den Stecken des fremden Treibers Napoleon zerbrochen hat, wird auch die Götzenbilder unserer einheimischen Tyrannen zerbrechen durch die Hände des Volkes.“, schreibt er 1834 im Hessischen Landboten. Diese vielzitierte und wohl bekannteste politische Schrift des deutschen Vormärz, die mit dem Aufruf: „Friede den Hütten, Krieg den Palästen!“ beginnt, ist in den letzten Jahren ein wenig aus dem Blickfeld geraten, auch der deutschen Linken, die inzwischen vor allem in den Banken die Ursache allen Übels zu erkennen glaubt. Büchners Flugschrift mag in manchen Momenten naiv daherkommen, aber sie ist immer noch analytischer als die Pauschalisierungen der Linken der Gegenwart. Vielleicht ist auch das ein Zeichen für die Absenz eines Fortschritts. Raketen und Dummheit halten sich in etwa die Waage. Vielleicht ist das ja eine historische Konstante, dass der Vernichtungskraft, die der Mensch entwickelt, immer auch die entsprechende Anzahl Soldaten korrespondiert.

Man könnte fragen, was Büchner mit Leipzig zu tun hat. Wagner ist schließlich hier geboren und die Opfer der Schlacht sind hier begraben, während der Hesse ja nicht einmal in Deutschland verstarb, sondern mit 23 Jahren im Schweizer Exil, und in Darmstadt gibt es ja schließlich ein kleines und feines Festival unter dem Label Büchner200. Jede Region also hat ihre Götzen, und schließlich ist Wagner auch aus Leipzig vertrieben worden.

Auch ich hatte das Büchner-Jubiläum nicht auf dem Schirm, was allerdings daran liegt, dass ich mich im Grunde nicht darum kümmerte. Außerdem war mir Büchner in letzter Zeit ohnehin etwas abhandengekommen, denn auch ich hänge am Tropf des aktuellen Diskurses, und in diesem hat der hessische Dichter, Naturwissenschaftler und Philosoph im Moment eher einen randständigen Platz.

Einzig in der amerikanischen Philosophie scheint er noch einen kleinen Platz beanspruchen zu können, indirekt jedenfalls, denn die Abschlussarbeit von David Foster Wallace, und die in diesem Umfeld publizierten Schriften (bei Suhrkamp unter dem Titel: „Schicksal, Zeit und Sprache“ erschienen) erinnern mich in Fragestellung und Gestus mehr an Büchner als deutsche Produkte der Gegenwart.¹ Auch meine Lehrer sahen in Büchner noch und vor allem einen Vorläufer der kommunistischen und sozialistischen Bewegung, aber der Kommunismus hat diese Vorstellung mit in das Geschichtsgrab genommen. Büchners Name bleibt durch Literaturpreise präsent, dem Büchner-Preis und dem Leonce-und-Lena-Preis. Wobei es mir noch immer ein Rätsel ist, dass ein Lyrikpreis nach einem Theaterstück benannt ist. (Das zugegebener Maßen einige wundervolle lyrische Momente enthält: Tanze, tanze, Rosetta tanze/ Bis sich die Welt im Takt deiner Füße dreht.)



Auftritt König Peter vom Reiche Popo

Mein Lieblingsstück von Büchner ist das Lustspiel Leonce und Lena. Schon der erste Monolog des Königs wiegt alles auf, was mir meine Lehrer in den jugendlichen Kopfbriefkasten warfen. Befreiung:


Zweite Szene. Ein Zimmer
König Peter wird von zwei Kammerdienern angekleidet.

Peter (während er angekleidet wird): Der Mensch muß denken und ich muß für meine Unterthanen denken, denn sie denken nicht, sie denken nicht. – Die Substanz ist das 'an sich', das bin ich. (Er läuft fast nackt im Zimmer herum.) Begriffen? An sich ist an sich, versteht ihr? jetzt kommen meine Attribute, Modificationen, Affectionen und Accidenzien, wo ist mein Hemd, meine Hose? – Halt, pfui! der freie Wille steht davorn ganz offen. Wo ist die Moral, wo sind die Manschetten? Die Kategorien sind in der schändlichsten Verwirrung, es sind zwei Knöpfe zuviel zugeknöpft, die Dose steckt in der rechten Tasche. Mein ganzes System ist ruinirt. – Ha, was bedeutet der Knopf im Schnupftuch? Kerl, was bedeutet der Knopf, an was wollte ich mich erinnern?


Und ich glaube, nein ich bin mir sicher, Büchner wäre nach der gescheiterten Revolution von 1848 unter den Auswanderern gewesen, so wie seine Gedanken, vor allem seine Philosophischen, aber auch die Naturwissenschaftlichen letztlich ausgewandert sind. Denn der Auszug auch aus dem deutschen Idealismus, auch als Geisteshaltung, lief nur bedingt über Marx, dessen Festhalten an einer Hegelschen Dialektik den Idealismus ja mehr oder weniger in die ökonomische Theorie überführte und dieses damit ihren Grundliberalismus austrieb. Freiheitsgedanken blieben der deutschen Philosophie weithin fremd, bis heute, und der Absturz der FDP bei der letzten Bundestagswahl heißt nicht, dass es jetzt keine Liberale Partei mehr gebe, sondern auch ihr Anschein ist verschwunden.


In der Mitte des vorvergangenen Jahrhunderts setzte in den Ländern, die letztlich zu einem deutschen Staatsgebilde verschmolzen wurden, ein Aderlass ein, von dem wir uns noch lange nicht erholt haben. Wir sind Aristokraten geblieben, Peters, die ihre Hosenfalle für eine Metapher halten. Büchner fehlt an allen Ecken und Enden, denn:


„Die Natur handelt nicht nach Zwecken, sie reibt sich nicht in einer unendlichen Reihe von Zwecken auf, von denen der eine den andern bedingt, sondern sie ist in allen ihren Äußerungen sich unmittelbar selbst genug.“

(Über Schädelnerven. Probevorlesung in Zürich, 1836)



Es ist Zeit, dass wir uns Büchners und der Freiheit wieder annehmen.


¹ Wallace' Abschlussarbeit am Philosophischen Institut Amherst ist eine Auseinandersetzung mit Richard Taylors Essay Fatalismus, in dem er in einer Folge von logischen Schlüssen nachzuweisen versucht, dass Freiheit schlechterdings unmöglich sei, weil der Gang der Ereignisse vorbestimmt ist, und in dieser Hinsicht alles Illusion, was darauf abhebt, wir könnten diesen Gang durch freie Entscheidung in irgendeiner Weise beeinträchtigen oder gar festlegen. Taylor geht in seiner Argumentation streng logisch vor, und seine Prämissen scheinen einleuchtend.
Dabei kommt er zu folgendem Ergebnis: Jenseits der subjektiven Empfindung, Einfluss auf den Lauf der Dinge zu haben, gibt es anscheinend keine guten philosophischen Gründe, die gegen die fatalistische Weltanschauung sprechen – aber sehr starke, die für sie sprechen. Das ist für Wallace Grund genug, in seine Abschlussarbeit am Philosophischen Seminar den Versuch zu unternehmen, Taylors Argumentation zu widerlegen. Er will Taylor auf seinem eigenen Feld schlagen, und so gerinnt seine Arbeit, die im Buch unter dem Titel Richard Taylors „Fatalismus“ und die Semantik physikalischer Modalitäten abgedruckt ist, zur logischen, und somit auch scharfsinnigen Tüftelei. Es ist die sportlich-kriminalistische Suche nach dem Stein in der Mauer, der, wenn man ihn entfernt, die ganze Konstruktion in sich zusammen fallen lässt. Andererseits kann man sich auch kaum lösen, ist man erst einmal vom Virus der Philosophie infiziert, und die Leidenschaft und sprachliche Klarheit erinnerte mich an Büchners Text über Schädelnerven.

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