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Jan Kuhlbrodt: Zum Beispiel Graham

Memo/Essay > Aus dem Notizbuch

Die Lyrikzeitung brachte unter der # 102 "Warum ist die moderne Lyrik so schlecht?" (27. August 2013) Auszüge eines Beitrags von Ron Charles, dem Fiction Editor der Washington Post, in dem jener von der "Jeremiade über den Zustand der heutigen Lyrik" berichtet, die Mark Edmundson von der Universität Virginia in einer Ausgabe von Harper's gegen Größen wie John Ashbery, Anne Carson, Charles Simic und anderen, aber auch gegen Jorie Graham loslies. Diese sei in ihren Arbeiten "ominös" (portentious).

Jorie Graham
wurde 1950 in New York geboren, wuchs in Rom auf und studierte an der Sorbonne in Paris Philosophie und an der New York University Film. Für ihre Gedichte hat sie 1996 den Pulitzer Prize for Poetry erhalten. Sie lehrt als Boylston Professor of Rhetoric and Oratory an der Harvard University.

Jorie Graham.
Foto: Sandy Dyas


Zum Beispiel Graham


Auf der Lyrikzeitung fand ich am 27. August diesen Jahres das Referat der Position Mark Edmundsons, die mich verwunderte, auf die einzugehen aber nicht weiter sinnvoll wäre, wenn eine solche Erwägung nicht zum Volksgut gehörte. Dieser Logik gemäß muss der erste Dichter der allerbeste gewesen sein, denn alle folgenden waren immer schlechter als die früheren. Ach wenn wir ihn doch kennen würden.

Das ist seine Hauptbeschwerde, referiert die Lyrikzeitung, also Michael Gratz, Edmundson die heutigen Dichter trauten sich nicht, “Wir” zu sagen und “Dur” anzuschlagen, wenn es um “grundsätzliche Wahrheiten der menschlichen Existenz” gehe. Angesichts von “Krieg, Umweltzerstörung und ökonomischen Zusammenbrüchen” würden sie schreiben, als ob “die großen öffentlichen Krisen vorbei seien und nichts wichtiger wäre als Selbstkultivierung und die Abwehr der Langeweile” (sic). Das einzige, was diese narzisstischen Sänger interessiere, sei die Schaffung einer “eigenen [unique] Stimme”.

Für das Dunkle, Ichbezogene führt der Autor weiter vorn unter anderen Jorie Graham und Anne Carson an. Zwei Autorinnen, die mich in den letzten Jahren sehr bewegten, und es ist mir nach wie vor ein großes Rätsel, warum Grahams Band, der 2009 bei Urs Engeler erschienen war, so wenig wahrgenommen wurde.

Wenn wir uns in einer Krise befinden, dann in einer der Rezeption:
Ich wiederhole hier einige Sätze, die ich bereits zum Erscheinen des Bandes formuliert habe, die ich jedoch nach wie vor für aktuell halte (auf Carson wird man gesondert eingehen müssen):

und aus dem äußersten Ende der Nacht der blühende Weißdorn aufstand.


Wenn es noch Argumente gebraucht hätte, mit diesem Vers hätte Graham mich gehabt. Im antikisierenden Rhythmus bricht sich einer Erfahrung Raum, die die Enden aus Sinnlichkeit und Reflexion ineinanderbiegt zu einer auf der Seite liegenden Acht, und der blühende Weißdorn ist geradezu zu riechen.

Der Vers ist dem langen Gedicht „Chaos“ entnommen, das sich ungefähr in der Mitte des Bandes befindet. Ein Zufall vielleicht, dem Titel entsprechend, aber nach vorn wie nach hinten gebiert der Band Ordnung. Oder etwas, das einer Ordnung ähnelt.

Das erste Lesen war mir ein Rausch. Niemals zuvor war ich in einer so kurzen Zeit durch einen solchen Berg von Gedichten geritten. Atemlos, erschüttert, befreit. Ja, dachte ich immer wieder, so muss man das machen.
Region der Unähnlichkeit. Region of Unlikeness. Allein das Wort Unähnlichkeit, das Abweichende in der Identität, die selbst nicht identisch, flirrende Ränder, die ganze Dialektik in einem Wort. So wie Geschichte in einem Text von Graham zusammenschnurrt. Das ganze zwanzigste Jahrhundert. Rhythmisch, politisch, intellektuell. Als wäre Ordnung möglich. Als gäbe es einen Sinn jenseits des Gedichts. Aber:

Schon zu Anfang, schon bevor sie schlüpften

war alles das gewußt werden konnte
    vorbei.
Die Mutter war da, ein gelbes Auge auf mich gerichtet


(Detail aus der Erschaffung des Menschen)


Als gäbe es Geschichte. Als sollte sie endlich beginnen. Es gibt in der Filmsprache den Begriff Aliasing. Das Zusammenfügen der Bilder durch unser Hirn zur Bewegung lässt uns die Umdrehung der Wagenräder als Rückwärtsbewegung erkennen, obwohl der Wagen doch vorwärts fährt. Revolutionen sind physikalisch immer beides: Aufwärts- und Abwärtsbewegungen. Revolution und Involution. Erkennbar an der Pause zwischen den Bildern, dem Moment der Bewegung also, der ausgespart bleibt.
Hier setzen die Texte von Graham an. Am Flirrenden, am Licht das von irgendwoher kommt und das immer schon Reflexion ist.


   „Ich seh das Licht von unserm wirklichen Platz
Den Arm aus leinwandwebendem Licht aufsaugen
     Bis die Geste des magischen Arms zerfranst,
     ...“                    

                               (Riss)


Zuerst habe ich Werner Hamachers formidable Übersetzung gelesen. Und immer, wenn ich dachte, ich sollte mal im Urtext nachsehen, kam der nächste und wieder der nächste Vers, das ich nicht mehr wusste, wo der Ansatz war, und ich fand die Stelle nicht, und später überwand ich mein lausiges Englisch und ich las auch die amerikanische Version komplett und verstand, dachte ich zumindest. Pate stand mir der Rhythmus, der in Grahams Texten und den Hamacher‘schen Übersetzungen niemals geliehen wirkt, niemals in ein galoppierendes Einerlei verfällt.
Weil Graham Geschichte denkt, weil sie um Gangarten weiß. Rhythmus und Tempowechsel. Und sogar mehrere Tempi gleichzeitig zeigt. Formationen. Ordnungen. Dass ich mich an die Klavieretüden von Ligeti erinnert fühlte und an die Stücke für zwei Klaviere. Sich überlagernde Formationen auch hier. Strukturen, die eine dritte höhere Ordnung anklingen lassen. Und vielleicht ist es genau das, was bei der Lektüre melancholisch stimmt: Die Erinnerung an die Möglichkeit von Sinn. Als gäbe es Freiheit.

Jan Kuhlbrodt



Jorie Graham: Region der Unähnlichkeit. Gedichte. Amerikanisch / Deutsch, übersetzt von Werner Hamacher. Sammlung Urs Engeler Editor, 2008. Band 62. Gebunden, mit Schutzumschlag, 19,5 x 15,5 cm, 218 Seiten, 28,- Euro.

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