Jan Kuhlbrodt: Übersetzungen
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Jan Kuhlbrodt
Übersetzungen
1
Elke Erb wird mit dem Büchner-Preis 2020 ausgezeichnet. Es
ist viel in den letzten Tagen darüber geschrieben worden, und mancher Kollege,
manche Kollegin hat seine oder ihre ganz eigene Begegnung mit der Dichterin
gehabt. Persönlicher Art oder in der Lektüre. Es ist geradezu gespenstisch wie
der Name Elke Erb durch die Diskurse weht, wie er an der einen oder anderen
Stelle unvermittelt auftaucht.
Aber hier und da erscheint er auch zwangsläufig, wie in der
neuen, von Suhrkamp verlegten und von Ilma Rakusa herausgegebenen Zwetajewa-Ausgabe. Im zweiten Band, der unter den Titel
„Lichtungen“ Essays und Erinnerungen versammelt, steht zum Beispiel ein Text,
der „Puschkin und Pugatschow“ heißt und von Elke Erb übertragen wurde. Darin
findet sich eine Aussage, die sowohl für Zwetajewa, Puschkin als auch Elke Erb
Gültigkeit beanspruchen kann:
„Ohne die Leidenschaft für den, der übertritt, ist man nicht Dichter. (Dass sich diese Leidenschaft für den, der übertritt, in einer revolutionären Ordnung beim Dichter in Konterrevolution verkehrt, ist natürlich, verkehren sich doch die Anführer selbst – in die Macht.)“
Kunst also ist Übertretung. Und
zwar in jeglicher Hinsicht. Und wenn sich etwas etabliert, wird es suspekt.
Vielleicht ist es genau diese Haltung, die die formale Beweglichkeit einer Elke
Erb ausmacht.
2
In einem ihrer Poetics, die Elke Erb auf der Seite des
Poetenladens veröffentlichte, beschäftigt sie sich mit einem einfachen, man
könnte fast sagen, kargen Gedicht des russischen Dichters Ossip Mandelstam.
Das Gedicht heißt: „Die Fliege“. Im Original „Mucha“. Der
Dichter betrachtet eine Fliege, die unvorsichtigerweise in ein Milchglas geriet
und darin droht zu ertrinken, und der Dichter versucht Milch und Fliege zu
retten, indem er die Flüssigkeit umgießt. Erbs Kommentar dazu:
„Ich spüre beim Wörtlich-Übersetzen eine eigentümliche Klarheit. Das Unfertige nimmt der Text-Präsenz etwas von ihrer Geschlossenheit/Geläufigkeit. Geläufigkeit = Geschlossen-heit, lerne ich (dankbar). Man liest sonst „darüber hinweg“. Auf einmal öffnet sich der Wortlaut und läßt erkennen:In dem Spieltext werden die Grund-Teile geprüft, dinglich. Reduziert auf Dinglichkeit.Aus wie einfachen Bestandteilen steigt auf: Poesie!“
Neben dem kommentierenden Erschließen des Textes zelebriert
oder versucht die Dichterin auch ihre Vorstellung vom Übersetzen durchdringen
zu lassen. Es geht ihr nicht so sehr darum, eine in sich geschlossene deutsche
Variante des ursprünglich russischen Textes herzustellen, vielmehr geht es ihr
darum, den Leser in die Lage zu versetzen, das Original im Original zu
verstehen. Und zwar mit erträglichem Aufwand.
Der sicherste Weg wäre natürlich, Russisch zu lernen, aber
wir wissen, dass es eine kleine Ewigkeit dauert, eine Fremdsprache so zu
beherrschen, dass man ihre Lyrik auch nur ansatzweise versteht. Erb also
arbeitet mit Transkriptionen und direkter Übersetzung und gibt dem Leser so ein
Material in die Hand, mit dem er sich den Text im Lesen erarbeiten kann. Sowohl
Übersetzende als auch Lesende sind Lernende. Und betrachtet man Erbs Dichtungen,
ist es auch die Schreibende, die die Sprache lernend ergründet.
Diese Form des Verstehens hat etwas sehr Körperliches, ist
nicht das sich lyrisch in einen Wortklang Fallenlassen, aber es wird eine Nähe
zum Original hergestellt, die aus der Verstehensanstrengung entsteht, die sonst
dem Übersetzer oder der Übersetzerin übertragen wird. Erb nimmt sie uns also
nicht ab, sondern überlässt sie uns viel mehr als Erfahrung.
Herzliche Glückwunsch zum Büchner-Preis. Keine Andere hat
ihn so verdient.
(Der Preis ist mit 50.000 Euro dotiert und wird am 31.
Oktober 2020 in Darmstadt verliehen.)