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Jan Kuhlbrodt: Schrift unter Tage

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Elke Engelhardt

Jan Kuhlbrodt: Schrift unter Tage. Essays und Kolumnen. Berlin (Gans Verlag) 2023. 168 Seiten. 29,90 Euro.

Jan Kuhlbrodt – Schrift unter Tage

Was bedeutet es, wenn die Schrift unter Tage ist? Dass mit ihr wie im Bergbau nach wertvollen Rohstoffen gegraben wird, nach Bodenschätzen? Nach Dingen, die tief vergraben sind, die sich verändert und eine Entwicklung durchlaufen haben, die sie in etwas verwandelt hat, was wir nun benötigen?
          Oder handelt es sich eher um etwas, das untergeht, über Bord geworfen und vergraben wird? An Bergbau und Tauchgänge erinnert dieser Titel, diese Bilder beschwört er hervor.
           Vielleicht handelt es sich um Schrift, die es herauf zu befördern gilt? In die Gegenwart und in den aktuellen Diskurs?

„Ich möchte gern an Zufall glauben, aber mir scheint, dass Texte dann
durchdringen, wenn ihre Zeit gekommen ist.“

Auf jeden Fall versucht das vorliegende Buch, diese Sammlung von Essays, Thesen und Kolumnen, in ihrer Gesamtheit bei aller Vielfalt so etwas wie eine Landschaftsbildung (oder Landerschließung) durch Schrift und Sprache, durch Verdichtung und Überschreibung.
       Darauf weist Kuhlbrodt selbst hin, zum einen mit dem bestechend schönen Cover, das einen Ausschnitt einer Feder-Tusche Arbeit von Carlfriedrich Claus verwendet, aber auch in seiner Hommage an den inzwischen verstorbenen Künstler. In „Der Filter, die Störung“ geht Jan Kuhlbrodt der Frage nach, wie Carlfriedrich Claus mit seiner Kunst neue Erfahrungsräume öffnet.

„Lesbarkeit im herkömmlichen Sinne ist nicht Intention seines Schreibens,
Verstehbarkeit ist nicht Intention seines Sprechens.“

Schreibt Kuhlbrodt über Claus, und führt in seinem Essay aus, wie Sprache und Schrift Landschaften bilden. Man sollte das unbedingt lesen, wie auch die anderen Texte, eben das ganze Buch.
     Unter anderem, um zu sehen, wie klug die einzelnen Texte aufeinanderfolgen. Von der Erläuterung, wie wichtig das Übertreten von Regeln für die Kunst ist, geht es in den folgenden „Thesen zum Reim“ um Sinn und Zweck der gebundenen Rede.

„Der Reim ist das Gegenteil von Totalitarismus, denn er befreit von der Diktatur
des Sinns. Er ist öffnende Erkenntnis.“

Jan Kuhlbrodt ist Philosoph, Schriftsteller und Rezensent, kürz-lich wurde sein im September erscheinender Roman „Krüppel-passion oder vom Gehen“ mit dem Alfred Döblin-Preis ausgezeichnet.
        Auch dieser Roman wird im Gans Verlag erscheinen, sowie davor die lyrisch-graphische Kooperation „Das Land und ich wir werden“, zu dem Kuhlbrodt Gedichte und Petrus Akkordeon Zeichnungen beisteuerten. Der Gans Verlag existiert seit 2016. Mit dem Namenspatron Eduard Gans, steht der Verlag dafür, komplexe Gedanken am konkreten Tagesgeschehen lebendig werden zu lassen. Es ist kein Zufall, dass Jan Kuhl-brodts Schriften hier ein Zuhause gefunden haben.

Kuhlbrodt arbeitet gerne mit scheinbaren Gegensätzen und Widersprüchen. Nicht zuletzt, um zu zeigen, dass Wahrheit, Denken und Erleben nicht ohne Paradoxien zu haben sind.

Dabei beziehen sich die Texte essayistisch aufeinander, entwickeln Gedankengänge weiter, nehmen Lektüren auf. Von Erich Mühsam und seinen Tagebüchern, die sich u.a. vor dem ersten Weltkrieg abspielen, geht es direkt in den aktuellen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Diese Verflechtung der einzelnen Texte führt dazu, dass ich als Leserin das Gefühl habe, mich Schicht für Schicht tiefer in das Bergwerk der Kuhlbrodtschen Gedankenwelt zu begeben.
      Der Autor beschreibt in seinem Essay über Hamann das Wurzelwerk der Gedanken, die Verbindungen, die sie miteinander eingehen, die Überkreuzungen und Verästelungen, von „einer Wahrheit, die im Verborgenen liegt“.

Zum gesamten Konzept dieser Textsammlung passt die Theorie der Collage, das Vermischen der Lektüre, der Verortung der Schriften in der Zeit – und Ideengeschichte mit eigenen biografischen Erinnerungen. Auf diese Weise werden die Texte nicht nur in ihren geschichtlichen und gesellschaftlichen Bezügen verankert, auch der Autor selbst bringt bei jeder Überlegung seinen persönlichen Erfahrungshintergrund ein. Oder anders gesagt: auch hier folgt das Buch den Verästelungen, die es freilegt, freizulegen versucht.

Unter der Schrift, unter den Lektüren liegen persönliche Lebenserfahrungen, das verdeutlicht nicht zuletzt, wie bedeutsam die Zeitgenossenschaft bei der Rezeption von Texten ist. Auch das ist eine Unterströmung, die die Texte lenkt. Und etwas, das durchaus in ein großes, vielleicht übergeordnetes Thema des Buches, der Sammlung von Texten, hineinspielt, nämlich die Frage nach Freiheit. Was das eigentlich ist, worauf Freiheit sich begründet, und wo sie ihre Grenzen findet. Aber auch, was hinter den Grenzen der Freiheit liegt. Vielleicht eine neue, andersartige Freiheit. Die Freiheit der Fragen. Die unter der Schrift liegen. „Als sei die Sprache der Texte eine Metapherndecke, die es zu lüften gilt, um das Eigentlich freizulegen.“

Letztendlich ist alles Collage, nicht nur dieses Buch, das bemerkenswerte Gedanken zur Theorie der Collage entwickelt, sondern das Lesen, das Schreiben, das sich Bewegen und Zurechtfinden in der Kunst.
       Und vielleicht läuft alles, laufen die einzelnen Texte zu auf diese abschließende Theorie der Collage. Auf jeden Fall öffnet diese Theorie das Lesen noch einmal auf neue Weise. Dieser Text wird selbst zu einer Unterströmung, zu einer Schrift, die unbewusst die vorhergehende Lektüre weniger lenkt, als öffnet für neue Einsichten.


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