Direkt zum Seiteninhalt

Jan Kuhlbrodt: Heute

Diskurs/Kommentare > Diskurse > Kommentare
Jan Kuhlbrodt
Heute


Ich bin mir nicht ganz klar, ob ich im Augenblick und angesichts des verbrecherischen Überfalls auf die Ukraine durch die russische Armee über russische Literatur schreiben sollte, und wenn ja, wie und über welche.

Wobei: über welche wüsste ich schon. Einige russisch schreibende Autorinnen und Autoren gehören gewissermaßen zu meinem Leben. Manche von ihnen möchte ich auch zu meinen Freundinnen und Freunden zählen. Und eine aggressive Politik wirkt immer auch ins Innere eines Landes, und es gehört Mut dazu, sich dagegen zu positionieren.
        Außerdem bin ich, so lange ich lese, von russischer Literatur umgeben. In Übersetzung und an Tagen, an denen ich besonders verwegen bin, auch im Original. Da gibt es zum Beispiel einen Vierzeiler von Konstantin Waginow, der um 1920 entstanden ist und den ich immer mal wieder zu übersetzen versuche. Hier eine Variante:

Wirbelwind schlage die Leier
Leier.lass Wolfsgeheul los
Weit und breit hier herrscht Chaos.
Herr, beruhige dich bloß!

Waginow, der 1899 in Petersburg geboren wurde, wo er 1934 starb, wird als Dichter mit einer Strategie der literarischen Verweigerung in Zusammenhang gebracht, und das kann man zumindest doppelt verstehen. Literarisch eben, sich keinen Vorgaben und Schulen unterzuordnen, aber eben auch politisch, sich dem herrschenden System zu verweigern.
      Heute ist es eben das System Putin mit allen seinen historischen Anklängen an aggressive und autoritäre Verfasstheiten.

Ich würde und werde also über Dichterinnen und Dichter und ihre Gedichte schreiben, die das Moment des Widerstands in sich haben, das letztlich gute Dichtung und gute Literatur überhaupt ausmacht. Dichtung, die die Sprache davor bewahrt, zum Instrument und zur Erfüllungsgehilfin faschistoider Herrscher wie Putin und ihrer Banden zu werden. Und es ist auch die Sprache der Opfer dieser Herrscher, die sich in den Texten erhält.

Am 10. Februar 1942 schreibt der russische Philosoph Jakov Druskin in sein Tagebuch:

„Am 4. oder 5. Februar ist D. I. gestorben (er meint D. Charms). So sagte man mir gestern, und wenn das wahr ist, so ist ein Teil des Lebens dahingegangen, ein Teil der Welt. In der Nacht habe ich mehrmals geträumt, Träume suchen Rechtfertigungen für den Tod, und diese Nacht war der Tod irgendwie erklärt, aber ich erinnere mich nicht wie, ich erinnere mich an ein zerbrochenes Rutenbündel. Wenn sein Tod ein Opfer ist, dann ein zu großes. Eines, das verpflichtet … Damit es nicht so sinnlos und so schrecklich ist, muß ich wieder anfangen zu schreiben. Aber vielleicht, hoffe ich, ist D.I. doch noch am Leben?“ (zitiert von Peter Urban in D. Charms. Die Kunst ist ein Schrank).

Charms starb, gewissermaßen in die Zange genommen von Deutscher Wehrmacht, die Leningrad belagerte, und stalinistischer Verfolgung, der er im belagerten Leningrad ausgesetzt war. Und letztlich sind es Waginow und Charms und andere Dichterinnen und Dichter des Widerstands, des Untergrundes, die es uns ermöglichen, heute überhaupt noch zu schreiben.
Zurück zum Seiteninhalt