Jan Kuhlbrodt: Der ganze Adolf Endler oder Freiheit und Disziplin
Memo/Essay > Aus dem Notizbuch
Jan Kuhlbrodt
Der ganze Adolf Endler oder
Freiheit und Disziplin
Ich bin kein Freund von
Gesamtausgaben, zu sehr vermitteln sie den Eindruck eines abgezirkelten
Sammelgebietes, in dem etwas zu einem Ende gekommen ist, und sie strahlen in
ihrer einheitlichen Aufmachung der Teilbände eine Uniformität aus, die dem
Werk, das sie zusammenzufassen vorgeben, zumeist nicht entspricht. Kein Autor,
keine Autorin schreibt wahrscheinlich auf eine Gesamtausgabe ihrer Werke hin.
Auch geht beim Lesen von Gesamtausgaben
zumeist das lustvolle Moment verloren, das einen (oder zumindest mich) beim
Stöbern im Einzelnen ergreift. Gesamtausgaben wollen vollständig sein, das sind
sie aber nie, weil sie sich meist nur auf den textlichen Aspekt richten, und
die grafische Qualität der Einzelausgaben zu Gunsten der Einheitlichkeit
nivellieren. Die Schönheit oder den Mangel des jeweiligen Einbandes oder die
Besonderheiten des Formates gehen in ihrer Zusammenfassung verloren. Im Grund
dienen Gesamtausgaben vor allem der akademischen Auseinandersetzung mit einem
Werk, das als solches, als Gesamtwerk also, nur in einer Gesamtausgabe
vorhanden ist.
ABER: Ich bin ein Freund von guten
Kommentaren, Kommentaren, die etwas von den Entstehungsumständen des Textes
preisgeben, Kommentare, die zeitliche und überzeitliche Bezüge herstellen, die
einem Text den Subtext seiner Entstehung zusetzen oder ihn sichtbar machen.
Realitätsmagneten und Zeitanker sind solche Kommentare, sie entwerfen oder
reproduzieren eine Welt in der der Text entstehend Wellen schlug. Und Kommentare sind zum großen Teil im Anhang
gut gehaltener Gesamtausgaben zu finden. Zum Beispiel findet sich in der Großen
Frankfurter und Berliner Brechtausgabe, die seinerzeit zeitgleich bei Suhrkamp
und Aufbau erschienen, im Kommentarteil zu den Gedichten eine Arbeit Brechts,
die aus Gedichten von Ingeborg Bachmann,
die im Band „Die Gestundete Zeit“ zusammengestellt waren, Strichfassungen
herstellte. Im Grunde wurde hier einem Original ein Text beigegeben, der aus
vorgefundenem Material wiederum ein Original gebar, und ich mag die Qualität
dieser beiden Originale gar nicht gegeneinanderstellen. Beide treffen.
Im Grunde wollte ich über den Band
einer Gesamtausgabe schreiben, der die Gedichte des von mir sehr geschätzten
Adolf Endler versammelt, jenes Dichters also, der in Düsseldorf geboren im Jahr
1955 in die DDR übersiedelte und fortan sowohl das Leipziger Literaturinstitut
und auch den Berliner Prenzlauer Berg unsicher machte, Gedichte produzierte,
die mit teils feinem teils grobem Spott und zuweilen verzweifelter
Ernsthaftigkeit die Zeit, die ihn umgab, auf den Punkt zu bringen suchten. Und
genau das war es, das ich in den Einzelausgaben Endlerscher Gedichte fand,
diesen bitteren Spott, der letztlich auch daraus resultierte, das eine
Gesellschaft, die von sich behauptete, auf dem Weg in eine lichte Zukunft zu
sein, mehr und mehr degenerierte. Das vielleicht ist ein inhaltlicher Aspekt,
der sich durch Endlers Gedichte zieht, und der mir zu allererst ins Auge
springt, weil auch mein Werdegang der einer Desillusionierung war,
parallelverschoben zu der Adolf Endlers, denn ich bin 36 Jahre jünger.
Wenn ich aber jetzt in der im
Wallstein Verlag erschienenen Gesamtausgabe die Gedichte Endlers lese, was ich
seit einigen Wochen täglich tue, verschiebt sich mein Augenmerk plötzlich auf
eine Weise, die mir Endlers technisches Vermögen klar werden lässt, die mir
zeigt, dass diese schnodderige Art, die ich an seinen Texten so mag, auf das
Kunstvollste technisch vermittelt ist. Plötzlich erscheint mir das Versmaß der
Texte, und ich sehe, wie Endler letztlich tradierte Formen einhält, und damit
Gegenwärtiges düster zum Leuchten bringt, zuweilen, bis es explodiert.
Und mir kommt ein Wort in den Sinn,
das ich zuvor nie im Leben mit Endler in Verbindung gebracht hätte: Disziplin.
Und dieses mir seit meiner Schulzeit im Grunde verhasste Wort gewinnt hier ein
Freiheitsleuchten. Vielleicht wäre ich nie darauf gekommen, wenn ich weiterhin
nur Einzelausgaben gelesen hätte, und ich hätte nicht gemerkt, dass diese Texte
gerade dadurch, dass sie technisch durchgeformt sind, den Einheitsmodus
sprengen.
Adolf
Endler: Die Gedichte. Herausgegeben von Robert Gillett und Astrid
Köhler unter
Mitarbeit von Brigitte Schreier-Endler und einem Nachwort von Peter
Geist. Göttingen (Wallstein Verlag) 2019. 896 Seiten, 39,00 Euro.