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Jan Kuhlbrodt: Das Modell, 12 (Auszug)

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Jan Kuhlbrodt

Das Modell

Kapitel 12 (Auszug)


Wenn man derjenige war, der das Ende als Erster beschrieb, würde man zugleich die eigene Ewigkeit beschreiben und konstruieren, was man aber zurückließ, wäre ein Heer von, sagen wir, Landschaftsgärtnern. Doch Landschaftsgärtner wollte ich nicht sein.
    So hatte Zassi sich ausgedrückt, und ich hatte dem beipflichten müssen, denn es waren meine Gedanken. Gedanken allerdings, die ich selbst nie so formuliert und ausgesprochen hätte. Und Zassi sprach von meiner Diplomarbeit, die sich im Wesentlichen um Biografie und Erkenntnis drehte, um den Wissensschatz also, der im Erzählten liegt. Allerdings hatte ich nicht weiter ausgeführt, worin das Verallgemeinerbare läge, das, was aus einer solitären Erinnerung einen soliden Gegenstand der Erkenntnis hätte machen können.

Wir müssten nur ordentlich zuhören, hieß es in der Einleitung. Denn der, der gut zuhöre, erkenne im Erzählten die Bedeutung für das Nachnarrative. Mir war nichts Besseres eingefallen.
    Die Gutachter seien recht angetan gewesen, sagte Zassi, obwohl ich eigentlich nur das Leben meines Vaters erzählt hatte, zumindest soweit ich es kannte, in einer, ich muss es zugeben, eher holprigen Sprache. Und ich konnte am Ende nicht einmal behaupten, dass mein Vater schon gestorben sei, was rein handlungsdramaturgisch gut gepasst hätte, weil das ein griffiges und makelloses Ende der Arbeit gegeben hätte.
    Aber ich hatte meinen Vater Jahre nicht gesehen, wusste nicht, ob er noch lebte. Also ließ ich ihn auswandern, wie schon so viele vor ihm ausgewandert waren, Familien-angehörige und nahe Freunde, Nachbarn und Kollegen, als berge die Luft um Chemnitz einen Keim, einen Erreger, der über die Atmung und die Blutbahn in die Gehirne der Bewohner eindringt und sie zum Auswandern zwingt, hatte ich in der Arbeit geschrieben.

Im Grunde ließ ich ihn also ohne Angabe von Gründen verschwinden und ohne dass er ein Dokument hinterlassen hätte, das zu einer Fortführung der Handlungen hätte beitragen können, und alles, was ich geschrieben habe, habe ich aus der Erinnerung heraus geschrieben. Es handelte sich bei meiner Diplomarbeit um die Biografie eines vergleichs-weise jungen Mannes, die damit endete, dass er seine Familie (samt Sohn) verlassen und zum Zeichen seiner Abwesenheit eine Kiste mit nummerierten Dias hinterlassen hatte.
    Dem Professor schien das als Ausweis meiner intimen Kenntnis der sechziger und siebziger Jahre in der DDR zu genügen, und der Zweitgutachter, ein anerkannter Physiker, jubelte.

Ich hätte also ein Leben erzählt, sagte Zassi zu der Frau im Café, das ich ziemlich gut gekannt und kaum kommentiert hätte. Ich ließe einfach die Fakten sprechen, sagte er in der Manier meines Professors, Theoriebildung am dokumen-tarischen Material, ich sei zu einem Wanderer geworden, sagte Zassi, auf einem Mittelweg irgendwo zwischen Geschichte, Soziologie und Philosophie.
    Und die Arbeit hatte einen außergewöhnlichen Umfang für eine Magisterarbeit gehabt. Einhundertachtzig Manu-skriptseiten. Einhundertachtzig!, wiederholte Zassi. Und keine Seite zu viel, habe der Professor gesagt.

Darum hatte ich auch auf Zassis Anraten hin begonnen, eine Doktorarbeit zu schreiben. Für die Dissertation (»Biografie und Erkenntnis - Zwei«) hätte ich nun das Leben meines Großvaters erzählen müssen, über das ich wenig wusste. Eigentlich nur, was mein Vater mir erzählt hatte, und das war bereits in die Diplomarbeit eingeflossen. Vor allem wusste ich, dass mein Großvater ein Leben lang Eisenbahner gewesen war. Man hatte es mir gesagt, und man hatte mir ein Blumenbeet am Chemnitzer Reichsbahn-ausbesserungswerk gezeigt, das man ihm zu Ehren in einem Bahnrad angelegt hatte. Zwischen den Stahlfelgen blühten in jedem Jahr andere verschiedenfarbige Blumen.

Soweit ich mich selbst an ihn erinnerte, saß Großvater mit einer karierten Wolldecke über den Knien im Sessel und sprach einfach nicht mehr. Hin und wieder hielt meine Mutter ihm eine Teetasse mit einem Strohhalm vor das Gesicht, aus der er langsam und in kleinen Schlucken trank.

Ich hätte gern die Geschichte meines Großvaters als die Geschichte eines Eisenbahners erzählt, hätte erzählt, dass er am Ende des Zweiten Weltkrieges einen Schienenwolf zu fahren hatte, die Gleise also wieder entfernen musste, auf welche die anderen Eisenbahner so stolz waren, dass er die Gleise herauszureißen hatte, die einmal ein den gesamten eurasischen Kontinent umspannendes Netz hätten bilden sollen. Das Einzige aber, was ich einmal in seinen Unterlagen gefunden hatte, ich hatte sie unmittelbar nach seinem Tod an mich genommen, war ein schlampig geführtes NS-Arbeitsbuch mit einer letzten Eintragung von 1938, einer Zeit also, in der die Deutsche Wehrmacht das Schienennetz benötigte, um Panzer und Truppen an eine Front zu transportieren, die sich noch vom Kernland entfernte, und als von Abriss noch keine Rede sein konnte.

Ich hatte dieses Arbeitsbuch einmal einem Freund gezeigt, und der hatte mit den Schultern gezuckt. Da sei nichts zu machen, sagte er, im Wesentlichen sei es unspektakulär. Für mich war das Heftchen mit Reichsadler und Hakenkreuz jedoch ein verstörendes Dokument, und ich legte es zu meinen wenigen persönlichen Sachen, nahm es überall mit hin, sogar nach Frankfurt und wieder zurück.
    Es gab niemanden, den ich hätte fragen können, mein Vater war weg, Großmutter erinnerte sich nur noch an den polnischen Badeort Sopot, und meine Mutter kannte zwar den Tee, den sie Großvater verabreicht hatte, aber sonst nichts. An Großvater musste meine Dissertation notwendig scheitern.

Denk dir doch was aus!, hatte Zassi gesagt, dem ich im Grüneburgpark einmal von meinem Problem erzählte. Und ich fing an, meine Umgebung zu beobachten und sie auf andere Leben hin abzutasten, über die ich hätte berichten können, Leben, die ich in meine Erinnerungen integrieren könnte.
    So stieß ich auch auf mein eigenes Leben, das zumindest anfangs vor allem eine bessere Quellenlage versprach. Ich dachte das nur, formulierte es nicht, und ich wusste nicht, ob Zassi davon wusste.

Jedenfalls erwähnte er es gegenüber der Frau nicht, die mich dann doch immer mehr an Kerstin erinnerte. Meine Hände begannen sogar ein wenig zu zittern. Das Geld für mein Bier, das fast unangetastet vor mir stand, legte ich auf den Tisch und verließ schnell das Lokal, von Zassi und der Frau unbemerkt. Wäre ich noch ein wenig sitzen geblieben, ich hätte wahrscheinlich sehen können, wie Zassi zur Tür hinkte.

Zassi wollte immer, dass sein Gang dynamisch wirkt, er zählte Schritte und setzte den Fuß bei jedem dritten Schritt leicht betont mit der Ferse auf. So gingen, glaubte er, energische Menschen, ein wenig holpernd, weil sie ihre Energien nur mit Mühe unter Kontrolle halten könnten, und das hatte ja auch etwas für sich. Genie und Gelassenheit, zwei Sachen, die entgegen der landläufigen Meinung nicht zur Deckung zu bringen waren. Thilo, mein Freund aus der Schulzeit, zum Beispiel, hatte, wenn er lief, immer eine Hand in die Hüfte gestützt.
    Bei einem Spaziergang durch den Grüneburgpark sprach ich Zassi auf seine Bewegungsart an, fragte ihn, ob ihn der Fuß schmerze. Der Fuß nicht, hat er gesagt und halbwegs verloren gelächelt.

Er habe in seinem Vater immer einen energischen Menschen gesehen, und sein Vater habe ihm darum als Vorbild gedient. Oft sehe er ihn vor sich, ganz unwillkürlich, wenn er die Augen schließe. Und er schloss seine Augen für einen Moment, ohne stehen zu bleiben. Er sehe, sagte er, seinen Vater fest und ernsthaft hinter einer Zeitung sitzen. Ein versteinertes Gesicht. Vor ihm kühlt der Tee ab, und hin und wieder lässt er den Löffel am Teeglas klingeln, hebt es an und überzeugt sich, dass der Kandis darin sich aufgelöst hat. Manchmal nur nimmt er einen winzigen Schluck, so als handele es sich bei dem Getränk um Medizin. Er trinkt das Glas aber in einem Zug aus, wenn die Lektüre des ersten Teils der Zeitung beendet ist. Und bei einem zweiten Tee, den er bei seiner Frau (Zassis Mutter) in der Küche wie an einer Hotelbar bestellt (Tee, Frau! Heiß!!), und den er dann heiß trinkt, widmet er sich dem Sportteil. Mit interesseloser Sorgfalt.

Sein Vater habe nie über Politik oder Sport gesprochen, nie einen Kommentar zu den Tagesereignissen abgegeben, aber die Informationen eingesogen, als wolle er sie für bessere oder schlechtere Zeiten sammeln, für Zeiten jedenfalls, in denen man die Informationen gebrauchen könnte. Und Zassi wollte wie sein Vater sein: energisch und undurchdringlich. Wissend und stumm ging er neben mir im Grüneburgpark, die Augen auf ein fernes Ziel gerichtet.

Wie war noch einmal sein Name? Es war mir, als hätte er den Namen seines Vaters erwähnt, und dieser wäre nicht unbeträchtlich von dem Zassis abgewichen, als wäre er angeklungen und an mir vorbeigezogen, ohne dass ich ihn halten konnte. Name? Zassi blieb stehen, kniff die Augen zusammen. Name, Name, brummelte er fast ärgerlich vor sich hin.

Allerdings hatte sein Vater in einem der Kriege das rechte Bein verloren und trug deshalb eine Prothese. Am Tisch, wenn er in der Zeitung las, hatte er sie nicht umgeschnallt. Direkt neben der Tür nahm er sie ab und lehnte sie gegen die Wand, so wie Zweibeiner die Schuhe auszogen, und hüpfte dann auf dem verbliebenen Bein zu seinem Stuhl.
    Mit einem der Kriege musste Zassi einen jener gemeint haben, die zum Zerfall Jugoslawiens geführt hatten. Allerdings sprach er immer nur von »den Kriegen« und nie davon, auf welcher Seite in ihnen er oder sein Vater sich befunden hatten. Ich erfuhr nicht einmal, welcher Volks-gruppe Zassi angehörte, oder besser zuzuordnen war, denn ich glaube, angehören wollte er keiner.


In: Jan Kuhlbrodt: Das Modell. Roman. Hamburg
(Edition Nautilus) 2016. 112 Seiten. 16,00 Euro.

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