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Jan Kuhlbrodt: Auwald (für Jürgen Brôcan)

Gedichte > Lyrik heute
Jan Kuhlbrodt

Auwald
(für Jürgen Brôcan)


Nehmen wir an,
es sei Leipzig, und hier ein Stadtteil
mit angrenzendem Dickicht;
dem größten Auwaldgebiet im Herzen Europas.
auch das schon Produkt früher Besiedlung und der Erlaubnis
zur Entnahme von Holzbruch
                       aus der Landschaft
                                   zur eigenen Nutzung
Und wenn die Flut ausblieb, wurde zweimal im Jahr künstlich geflutet.

Ein Staubecken voll Paddler, Reiher und Kajaks.
Motorbootfahrer mit Megaphon
geben die Schläge vor.
Wer wollte angesichts dieser krautigen Ufer
am Fluss von Gestade sprechen?
Zeitfluss und Zeitsaum. Wann etwas begann,
ist immer nur Hypothese.

Olympioniken im Kanu
Holzbruch, Schwemmgut, Nutzung, privat, Auwaldgebiet, Herz.
Worte wie Thesen, Worte wie Weichholz, Worte wie Worte
TRUG PRIVATEN CHARAKTER
Worte sind immer Worte gewesen

Er rührte an den Schlaf der Welt mit Worten, die Blitze waren
sie kamen auf Schienen und Flüssen daher, durch alle Länder gefahren.

           Kommunistische Variante der Genesis.
Eisenbahnfortschritt. List entwarf eine Strecke von Dresden nach Leipzig
Knotenpunkt, Mittelpunkt. Bahnsteigkarten kannte ich
nur aus Erzählungen und einem Leninzitat

Warum bitteschön sollte man noch eine Bahnsteigkarte kaufen
wenn die Revolution ohnehin ausbleibt?
Und wenn man in getönten Scheiben des Schnellzug immer nur
das eigene Gesicht sieht, unter dem die Fenster hinweggleiten.
Die Sprache folgt der Industrialisierung nach. Holzpflaster
verschwindet nur langsam. Hält sich
dort wo in Gulliedeckeln alte Straße zitiert wird
noch an die hundert Jahre.

Tripp Trapp Tripp Trapp


Zwischen Augsburg und München liegen wenige Kilometer. Zwei Tage
Fußmarsch für eine erschöpfte Armee. Entlang einer Bahnstrecke
Ausgangspunkt Fuggerstadt und beginnender Sozialbau.
Wohnungen praktisch und übersichtlich wie Nomadenzelte
Wer aber wollte beim Zustand der Welt an Schlaf denken?
Wen man da rütteln musste, der war bereits tot.
Kein Auge zu öffnen und andere
gingen offenen Auges der Zukunft entgegen.
Kein Schlaf und der Alptraum kein Traum.


Wir zogen in diesen Stadtteil in Leipzig vor allem der Kinder wegen.
Eisvögel, Gimpel, Spaziergänger, hin und wieder ein Reh.
Im Frühjahr durchwabert Geruch wie Knoblauch die Straßen
Ein Knoblauchgeruch der dickblättrigen Kräutern entströmt.
Bärlauch, ach Bärlauch, klingt es ab März wie eine Verheißung
Bald werden sich die Pflanzen ergeben und weiße Blüten hissen
dem Kräutersammler mit seinem Körben still sich unterwerfen.
Kennern des Essbaren und dem Zeitpunkt problemfreien Genusses

Anarchisten auf Abwegen hundert Jahre zu spät? Eher nicht.
Gespräch zweier Frau'n um die dreißig, Textilien im Haar
eingeflochten die Markennamen neuer Funktionsbekleidung:
Kennst du Bärlauchpesto? Bärlauch und Öl, das kenne ich, klar.
Was hier alles ein Herz hat! Die Stadt, die Nation, sogar dieser
Kontinent. Bombendurchpflügt über die Jahre. Auf jeder Baustelle,
und auch am Ort, wo das Herz Wald ist also, findet man
Weltkriegsmunition. Blindgänger. Überbleibsel

zu deren Zerstörung Sprengmeister in kolossal klobigen Kostümen
wie ausgedacht und gefertigt in der Werkstatt des Bauhaus.
Textiles Gestalten. Ideen Schlemmers. Biomorph? Nein!
Kubus Zylinder und Kugel. Reine Formen fernab natürlicher Referenz.
Die Umrisse gelöst in geometrische Formen, Kubus, Quadrat,
der Mensch sein eigenes Haus. Die Sprengkörper zu sprengen.
So etwas findest du nicht im natürlichen Dschungel.
UND NICHT IN DER WÜSTE. Bombendynamik.

Zwischen den Bäumen und in den Büschen Zangen und Zettel
Orientierungsläufer markieren hier übers Jahr am Kontrollpunkt
papierne Beweise ihres kurzen Daseins an vorgegebenen Orten.
Dann krauchen sie aus dem Dickicht wieder heraus.

Wie aber bewegt man sich durch die Zeit, nicht in der Zeit? Orte,
vergangene, nicht zu rekonstruieren. Orte ganz ohne Gegenwart.
Vielleicht gibt es keine historische Gerechtigkeit, und vielleicht
ist Gerechtigkeit gar nicht herstellbar, weil ja ein jeder Prozess,
der zu ihr führen könnte, in der Vergangenheit anzusiedeln wäre,
wie jeder Urahn, der sich einer Strafe, dem gutgemeinten Zugriff
entzieht. Er verbirgt sich wie alle Geschichte hinter Geschichte.

Wir sehnten uns nach anderem, Brôcan der Whitmanübersetzer und ich,
vor der BIBLIOTHEK Wolfenbüttel etwas, von dem wir nicht
in der Lage waren zu sprechen. Es war Tasten und Fragen.
Ein Stochern in Texten. Politisch, ästhetisch und überhaupt.

Wende dich O Liberad, denn der Krieg ist vorüber
Von ihm und allem ab, breite dich künftig aus, zweifle nicht
           länger, durcheile die Welt resolut.
Wende dich ab von rückwärtsgewandten Ländern, die von Be-
           weisen der Vergangenheit zeugen.

Was Walt Whitman  am Ende des amerikanischen Bürgerkriegs dichtet,
steht auch in Europa immer noch aus.

Wieder schieben sich Erzählungen von der Geschichte vor die Geschichte,
schieben sich übereinander wie Eisschollen auf Friedrichs Bild
Verlorene Illusion. Berichte eines Vergangenen werden berichtigt.
Berüchtigt mancher Erzähler. Verstummt auch vergessen, vergessen

gemacht. Wieder zur Sprache gebracht.
Wieder Vergessen. Innehalten ist Übergehen,
wenn die Beschäftigung mit dem, was war, keine Gegenwart
zeugt. Das die Crux des Prozesses. Dieser Gedanke

Ach Kafkas Axt, wie konnte ich die nur vergessen,
da ich zu Fuß unterwegs bin auf einem gefrorenen Meer.
Allerhand.

Ein Unbehagen, auch evoziert diesen alten Wunsch nach Erlösung,
und nicht nur nach Rettung besonders großartiger Texte,
Vorstellung ist mit Biografien verbunden,
verhaftet, die sich auf verschiedene Weise
in Texte verwandeln, eigene, die eines andern. In seinem letzten Roman

                       „Das mechanische Klavier“

schreibt William Gaddis, dass Thomas Bernhard seine Texte schon kopiert, bevor er selbst sie geschrieben. Das ist Auflösung von Zeit, ohnehin, dass jetzt die Kopie dem Original vorausgeht. Oder war's so schon immer?


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