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Jan Kuhlbrodt: Am Anfang oder aus Prinzip

Montags=Text
Jan Kuhlbrodt

Am Anfang oder aus Prinzip (Εξάρχεια)

Oder zwischen den Zeilen steht nichts.
Oder zwischen den Zeilen ist sauberes Papier.


ExArchia: ein Platz, dreieckig, mitten in Athen, aber kein zentraler Platz. Unweit davon die Universität mit dem Tor, das gegen Ende der Obristendiktatur von einem Panzer der Junta durchbrochen wurde. Demonstrierende Studenten wurden niedergewalzt. Das Tor zur Freiheit, jetzt. Kurze Zeit später fielen die Obristen, der Faschismus verschwand, aber Freiheit? Er sitzt also auf ExArchia und schaut. Die Cafés und Kneipen sind dicht besetzt. Zwei Junkies hängen in der Mitte des Platzes auf kaputten Holzbänken. Mit kleinen Handbewegungen werden bei den Kellnern Bestellungen aufgegeben oder eben auf Zuruf über zwanzig Meter. Daran muß er sich erst gewöhnen. Er bestellt sich einen Ouzo und freut sich auf das Glas mit frischem Wasser, das zu allem serviert wird, eisig kaltes frisches Wasser. Ein Freund hat ihm gesagt, daß sich auf der Seite des Platzes, auf der er jetzt sitzt, die "Politischen" treffen, vor allem Anarchisten. An solche Abende könnte er sich gewöhnen, denkt er, und wundert sich über die Doppeldeutigkeit des Namens ExArchia: am Anfang oder aus Prinzip. Neben ihnen debattieren einige Leute laut und weit gestikulierend. Sie sind um die Vierzig und tragen ziemlich heruntergekommene Klamotten. Es sind nicht die gestylten Autonomen, wie er sie aus Deutschland kennt. Vor ihnen auf dem Tisch liegt ein Buch. Er starrt es eine Weile an, bis ihm auffällt, dass der Titel des Buches deutsch gesetzt ist: "Grundrisse zur Kritik der Politischen Ökonomie" von Karl Marx. Er kennt dieses Buch ziemlich genau, und er hätte einen Einstieg, um mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Welche Sprache? Sein Arsenal ist begrenzt. Russisch fällt wohl weg. Es bleiben Deutsch und Englisch. Er beschließt dieses Problem als Vorwand zu nutzen, kein Gespräch zu beginnen. Er würde gern, aber es geht nicht. Er schaut weiter über den Platz. Dass er sich nicht satt sehen könne, sagt er sich, um weitere Gründe anzuführen, das Gespräch zu vermeiden. Schließlich zwingt ihn etwas zur Ruhe. Seine Aufmerksamkeit liegt auf einem Hund. Der Hund hat sich auf dem leeren Platz neben ihm niedergelassen. Der Hund schläft.

Das bißchen Anarchie zu retten,
In diesem Wirrwarr unsichtbarer Ketten,
In diesem Dschungel von Gesetzten
wie die letzten Sonnenfetzen

bei grauer Witterung,
ohne Zwänge, Sitten,
und nicht zu kitten
die Brüche in der Illusion.

Fangen Sie heute ein neues Leben an, hat er mit Filzstift auf den Spiegel geschrieben. Er hat es aus einem Film oder einem Buch, so genau kann er sich nicht erinnern. Er bewohnt acht Quadratmeter in einem Studentenwohnheim, das aussieht wie ein Getreidesilo. Bleiben wollen, ist ein Gefühl, das er sich seit langem wünscht.  Der Spruch wohl eher Zustandsbeschreibung als Maxime. Fangen Sie heute ein neues Leben an! Er nimmt es als Bestätigung; hat seinen Rucksack ausgepackt, diesmal. Ein Indiz für dieses ´bleiben wollen´ Wollen. Doch auch die Sachen im Normschrank vermitteln ihm noch den Eindruck des Provisoriums.  Er verwirft das Projekt und versucht, an nichts zu denken. Bleiben wollen, abstrakt. Er weiß nicht einmal, ob er es kennt, dieses Gefühl, versucht, sich zu erinnern, denkt sich Situationen aus, die er erlebt haben könnte. Und er setzt sich auf das Bett, das er nicht als sein Bett bezeichnet. Es ist geborgt, und die Hauptmieterin hat ihre Poster hängen lassen. Er nimmt sie nicht ab. Die Poster hängen schief. Von einem hat sich eine Ecke gelöst. Er befestigt sie vorsichtig. Fangen sie heute ein neues Leben an!, hat er mit Filzstift auf den Spiegel geschrieben.


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