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Jan-Eike Hornauer: Das Objekt ist beschädigt

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Timo Brandt

Braucht denn Lyrik Eleganz?



In einem Gedicht der von mir hoch geschätzten Mascha Kaléko mit dem Titel „Kein Neutöner“, heißt es:


„Gehöre keiner Schule an
Und keiner neuen Richtung.“

Und später im selben Gedicht dann:


„Weiß Gott, ich bin ganz unmodern.
Ich schäme mich zuschanden:
Zwar liest man meine Verse gern,
Doch werden sie - verstanden!"


In diesen Versen empörte sie sich über das Etikett der „Gebrauchslyrik“, das ihren Dichtungen aus dem „lyrischen Stenogrammheft“ angehängt wurde und sich als Schlagwort für jene Art von Gedichten durchgesetzt hatte, die vielfach im Berlin der 20er Jahre geschrieben wurden und meist einen nüchternen, profanen Tonfall besaßen. Alltagsgedichte, „Neue Sachlichkeit“, es gab einige Bezeichnungen für diese Form von Lyrik und nicht von allen Dichter*innen wurden solche Zuschreibungen abgelehnt. Erich Kästner zum Beispiel propagierte diese Form und stellte aus seinen Gedichten gar eine „lyrische Hausapotheke“ zusammen.
    War diese Form eine reine Gegenbewegung zu den exzentrischen, surrealistischen und dadaistischen Tendenzen der damaligen Lyrik? Nur eine Erscheinung der zeitgeschichtlichen Umstände womöglich?
    Ganz so einfach scheint es nicht zu sein, denn es gab sie auch später noch, die Gebrauchslyrik. Mit Nicolas Born und Erich Fried (und vielen anderen Namen, die jetzt sicher zu nennen wären und deren Aufzählung ich hier nicht einbauen will) hatte sie auch prominente Vertreter in den 70er Jahren (auch hier wird gern auf die zeitgeschichtlichen Bezüge hingewiesen, und die sind nicht von der Hand zu weisen).
    Und heute? Der Gebrauchsvers boomt – vor allem in Form von Werbeslogans, in Popsongs, auf Grußkärtchen; kurz: im Kommerz. Und die neuen Gebrauchspoeten? Den verstorbenen Robert Gernhardt einfach in diese Kategorie einzuordnen wäre vermessen, auch wenn er mit dieser Richtung kokettiert hat. Bleiben noch Spaßmacher wie Thomas Gsella. Ansonsten findet das, was man Gebrauchslyrik nennt, hauptsächlich im Internet statt, in Hobbyforen und -communitys. Und augenscheinlich in diesem Buch, womit wir endlich bei Jan-Eike Hornauer angekommen sind.

„Ein jeder Mensch hat seine Art,
und ich hab‘ halt die meine;
und ist sie auch nicht stets apart:
Wie schlimm wär’s, hätt ich keine!“


Warum der lange Vorlauf, die verknitterte Geschichtsstunde? Weil ich persönlich es als schwierig empfinde, mich mit dieser Art von Lyrik, die mir bei Hornauer begegnet, auseinanderzusetzen. Und ich mich immer daran erinnern muss, dass sie erstens durchaus eine Tradition haben könnte, und zweitens dahinter nicht unbedingt der Wunsch steht, es sich leicht zu machen und alle Überlegungen zu Form und Vertretbarkeit außer Acht zu lassen. Denn so wirkt Hornauers Dichtung auf mich: ohne Bezüge, unüberlegt. Ohne echten Gestaltungswillen, der über die bloße Formierung in Reimen hinausgeht.  


„Die Haut ist schlaff, das Haar ist grau:
Jahrzehnte sind vorbeigezogen.
Bemerkt ward es zwar nicht genau,
doch schreibt man an den Epilogen.“


Eingängig dann und wann, aber meist wird zu schnell ein Reim herangezogen und das reicht für mich einfach nicht aus, um etwas Gedicht zu nennen. Oder ist das ein Vorurteil meinerseits? Warum schätze ich denn die Gedichte von Erich Kästner und Mascha Kaléko? Die von Nicolas Born und Erich Fried? Die von Kurt Tucholsky?
    Bei Kästner und Kaléko ist es meist: die Eleganz. Eine manchmal rotzige, nicht selten bissig-spöttisch-zynische, und oftmals melancholische, eine mitunter fast zu leichte, aber mitunter auch sehr schwere, tiefgehende Eleganz. Bei Fried und Born ist es die Konfrontation; ich bewundere es, wie sie versuchen, es mit den blinden Flecken unserer Wahrnehmung aufzunehmen; wie sie aus dem, was gesagt werden sollte, Dichtung machen, aus Dingen, die nicht unangeklagt, ungenannt passieren dürften, und sie haben dafür nur die Sprache, und ich weiß, wie ungenau die ist, wenn es nicht um evoziertes, illuminiertes oder transzendiertes Geschehen geht, sondern die Wirklichkeit damit abgebildet werden soll.
  Tucholskys Verse mag und bewundere ich eigentlich nicht, aber ich respektiere seine Ausdauer, seine Versuche mit der Sprache etwas zu erreichen, was sich dem Sang, dem Reim, der Aussage entzieht. „Man kann die Welt nicht in ein Gedicht zwängen, man kann mit einem Gedicht nur ein Fenster zur Welt öffnen“, wie der polnische Dichter Zbigniew Herbert schrieb.

Hat Jan-Eike Hornauers Lyrik eine dieser Qualitäten?  

„Als Überschallpilot im roten Wagen,
mit Panzerrüstung hochbewehrt
und in der Hand ein Laserschwert,
ganz todesmutig Drachen jagen,

als Kapitän in All- und Meerestiefen
durch alle Zeiten reisen, wie’s grad passt,
im Laderaum als heimlicher Ballast
der schlaue Brontosaurus des Kalifen“


Eleganz erreichen seine Verse nur selten, allerdings oft an schönen Ecken, z.B. in Kindergedichten. Aus einem solchen stammen auch die  beiden Strophen über diesem Absatz. In einem anderen herrlichen Gedicht geht es um ein Kind, das sich über ein Hochwasser freut, weil man nun z.B. schwimmen kann, wo vorher Straßen waren. In der letzten Zeile aber plötzlich fragt es: „Ja, sehe ich dann je ein Haus, das brennt?“.
    Dieser Zug zur Pointe ist stark in Hornauers Dichtung – eine heitere Lyrik soll das sein („zumeist komische Gedichte aus einer brüchigen Welt“ ist der Untertitel des Bandes) und doch eine bezeichnende. Auch mit den Klassikern wird herumgespaßt und abgerechnet, z.B. mit Hölderlin und seinem berühmten Gedicht „Hälfte des Lebens“:

„Ja, da gibt’s nur eine Sache
für den lieben Hölderlin:
Schießt er sich nicht selbst darnieder,
helfe man und hänge ihn.“


Heiterkeit ist ja nun per se kein Manko – Dichter wie Wilhelm Busch oder der bereits genannte Gernhardt haben sich oft mit Heiterkeit umgetan. Allerdings hatte diese Heiterkeit nicht selten einen doppelten Boden und nicht nur eine auftrumpfende, angesteuerte Pointe (die ab und an schon mal das Gegenteil des doppelten Bodens sein kann), oder sie waren direkt auf Nonsens angelegt und nicht auf einem anderen Gebiet als dem Humor ambitioniert, und dieser Humor wann dann auch nie so aggressiv-borniert wie er bei Hornauer oft rüberkommt. Und auch wenn seine Gedichte angeblich von der „brüchigen Welt“ handeln, erreicht er nicht die Sphären eines heiteren Esoterikers wie Morgenstern, für den ein wichtiger Gedanke hinter der Heiterkeit die Vollkommenheit der Dinge ist.
    Ansonsten kommt vielleicht noch Eugen Roth in den Sinn, aber dessen Pointen sind oft erhellend und entlarvend, ohne dabei gleichzeitig ein Klischee oder eine allzu leichtfertige Verallgemeinerung zu sein, und auch das gelingt Hornauer selten – am stärksten noch in einigen Gedichten zur Zeitgeschichte wie z.B. dem „Lied der Bayern“, das so beginnt:

„Von der Maß bis hin zum Bembel
reicht der Bayern Hügelwelt.
Dieses Reich ist voll mit Schwarzen,
Tradition und reichlich Geld.
Auferstanden aus den Äckern,
dem Profit hinzugesellt,
steht es halb in der Moderne
und pflegt halb die alte Welt,
wie sie niemals dagewesen,
wie sie nur heut‘ vorgestellt.“


Trotz solcher Verse: ein klassischer Humorist ist er eben nicht. Seine Gedichte wollen viel zu oft große Würfe sein, gehen dabei aber nicht behutsam oder elaboriert genug vor; wie zu eifrige Revolutionen, stürzen sie sich mit Worten und Reimen ins Thema und versuchen sich zu beweisen und produzieren dabei ein Durcheinander aus Inhalt und Form.
    Sehr prominent an den Anfang des Bandes gestellt wurden die Gedichte zu „Liebe & Frauen“. Zum Ende hin möchte ich mir eins dieser Gedichte noch einmal genau ansehen und darlegen, warum ich die Gedichte dieses Bandes nicht einfach abtun will, aber auch nicht wirklich viel von ihnen halten kann, als Dichter und als Leser. Das Gedicht heißt: „Der Augenblick danach“.

„Durchgevögelt ist so friedlich,
so entspannt Dein Angesicht
– das ist sexy, schön und niedlich,
bringt die Welt ins Gleichgewicht!

Oh, warum nur, Frauenzimmer,
bist nicht stets Du frisch begattet,
selten nur mit Gottesschimmer,
der dann auch noch rasch ermattet?

Rares Glück verstärkt das Leid!
Und man sucht, was kaum mal da,
traurig dann die meiste Zeit,
quält sich dank Utopia.“


Wenn wir die Prüderie beiseitelassen, ist da im ersten Moment eine Szene, ein Eindruck, vielleicht sogar ein Gedanke, der zumindest Männern durchaus bekannt sein dürfte; ein Gefühl soll eingefangen werden, es geht um eine Art von Erfüllung, ein klassisches Gedichtmotiv. Warum sträubt sich dann trotzdem so vieles in mir?
    Ist es die Offenheit die mich stört, das Plumpe, das Geradeheraus? Ja, zum Teil. Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass eine solche Formulierung in einen Roman gehört und nicht in ein Gedicht; in einem Gedicht kommt sie mir lächerlich vor – und sofort frage ich mich, ob ich vielleicht eine doktrinäre, elitäre Vorstellung von Lyrik habe, in der kein Platz ist für Direktheit & Profanität?
    Ein weiterer Gedanke: Wenn Leute es sich so einfach machen, warum mache ich es mir dann so schwer, wälze jedes Wort, versuche jede Untiefe zu gestalten? Da könnte ich ja auch an der Oberfläche bleiben! Aber ist es nicht gut, wenn andere es anders machen, sich nicht einengen und nicht zu hohe Erwartungen an die Sprache anlegen?
    Vielleicht sind meine Vorurteile da tatsächlich groß, aber ich versuche trotzdem ästhetisch festzumachen, was mich stört: abgesehen von der Plumpheit ist es vor allem das Ende. Nachdem dieses Gedicht sich in der ersten Strophe ausgetobt hat und in der zweiten die Besinnung probt, schleudert es uns plötzlich und emphatisch eine Zeile entgegen, die wie eine Erkenntnis geformt ist, aber viel zu phrasenhaft und pauschal klingt, den Ton des Gedichts gegen den Strich bürstet. Natürlich weiß man, was gemeint ist, aber darum geht es nicht, wirklich nicht. Auch bei Kalékos Gedichten war das „verstanden werden“ nicht die Hauptqualität, sondern eine zusätzliche.  
    Mit diesem Ende versucht das Gedicht einen Sprung vom Profanen hin zur höchsten Sphäre, versucht linkisch an Metaphysik anzudocken. Will seine eigene Empfindung unbedingt entgrenzen, was der eigentlichen Gedichtbewegung völlig zuwiderläuft. Und die Reime, die zwar schon in den vorherigen Strophen salopp und ein bisschen gefällig waren, verlieren jetzt in der dritten völlig ihren Charakter, wirken unsauber und nur pflichtschuldig verlötet.
    Man könnte die letzte Strophe streichen und es würde nichts fehlen, es braucht diesen Weisheitsschluss nicht, zu dem es die Gedichte Hornhauers oft zieht, so stark, dass man es meist schon von weitem kommen sieht.
    Viele der Gedichte wirken nicht zu Ende gedacht. Einige beginnen vielversprechend, man erkennt die Idee, man spürt einen Zug. Aber dann fehlt ihnen der Atem und sie werden aufgeschichtet, ohne dass die einzelnen Zeilen mehr tragen können als ein hastiges Hinüberspurten. Es gibt Geistesblitze und schnittige Anfänge, das ein oder andere vielversprechende Sujet mit Alltagsflair, dessen Kern aber trotzdem nicht getroffen wird, es wird nur darauf herum gedichtet. Dann geht es um scheinbare Erkenntnisse, die das illustre Zusammenreimen aufwirft, aber zur wirklichen Anschaulichkeit, tieferen Aspekten des Daseins, auf welche Lyrik verweist, in die sie vordringen kann, reicht es nicht.

„Das Rad
der Geschichte
gehört
einem Hamster.“


Der zeitgenössischen Verlagslyrik wird oft Unverständlichkeit vorgeworfen. Ich kann diesen Vorwurf nachvollziehen, wobei ich glaube, dass er auf den falschen Annahmen beruht, dass den Leser*innen nur eine passive Rolle zukomme, ein Gedicht mit dem Schreibprozess abgeschlossen sei und, zuletzt noch, dass Verständlichkeit etwas mit Eindeutigkeit oder Gefälligkeit zu tun habe. Es gibt einen Unterschied zwischen elitär und ehrgeizig, zwischen unverständlich und eigenständig.
    Trotzdem hallt Kalékos Klage natürlich bis in die Gegenwart hinein: „Doch werden sie verstanden.“ Gebrauchspoesie ist nicht generell zu verwerfen; Einfachheit kann und solle kein Makel sein. Aber sie ist angreifbarer und sollte dementsprechend durchdacht werden. Sie kann nämlich ziemlich ignorant wirken, wenn man sie all den Überlegungen gegenüberstellt, die viele zeitgenössische Dichter*innen mit in ihre Werke einfließen lassen.
    Es gibt so viel, über das man schreiben kann – warum darüber schreiben, wie sich die Post-Koitus-Atmosphäre anfühlt? Weil es eine menschliche Erfahrung ist. Das reicht tatsächlich als Antwort, als Daseinsberechtigung, meine ich. Der Rest ist die entscheidende Frage der Kunst, die Frage nach der Ästhetik, und bei Jan-Eike Hornauer wird man nicht viel finden, was auf diese Frage eine befriedigende Antwort gibt. Was man findet: jede Menge Lebensstoff, oft zu verquer, zu pointiert, reißerisch oder zu sehr auf Applaus hin inszeniert.

„Fremde Küsse, fremde Haut,
auch ein wahrlich fremdes Zucken,
gar nichts wirkt so recht vertraut,
fast muss ich verlegen schlucken.“



Jan-Eike Hornauer: Das Objekt ist beschädigt. München (muc Verlag) 2016. 207 Seiten. 17,95 Euro.

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