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Jan Egge Sedelies: kinetischer sand

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Stefan Heuer

Jan Egge Sedelies: kinetischer sand. Gedichte. Hannover (Wehrhahn Verlag / Lyrikedition Hannover) 2024. 48 Seiten. 10,00 Euro. ISBN 978-3-98859-106-7

Fiebersäfte, Widerstand & Gregor Samsa  –
Jan Egge Sedelies‘ neuer Gedichtband "kinetischer sand"


2006 war es, da habe ich mit "Niemals so ganz" den ersten Gedichtband von Jan Egge Sedelies besprochen. Ein schöner, aussagekräftiger Band: system- und gesellschaftskritisch bis in die Haarspitzen, ausgestattet mit einer ganz eigenen Poetik.

Seitdem ist viel Wasser die Leine hinuntergeflossen und viel passiert: Sedelies hat sich zwischenzeitlich als Literaturveranstalter und -moderator, aber auch journalistisch als Redakteur der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung etabliert, hat mit seiner Band, den beatpoeten, zahlreiche Bühnen auf links gedreht und ist, nicht zuletzt, Vater geworden. Was mag dies mit seiner Lyrik und ihm selbst gemacht haben? Hat er sich vom Engagement verabschiedet und diskutiert nun bei Rotwein und Pseudojazz-Berieselung und mit abgespreiztem kleinem Finger mit anderen Vätern über die Konsistenz von Kleinkindnahrung? Herrscht bereits die vielzitierte Altersmilde, ist alles so schön grün und duftet frisch?

Die Antwort auf diese Fragen liefert sein neuer Gedichtband "kinetischer sand", der Ende September in der auf insgesamt 10 Bände ausgelegten und von Bert Strebe herausgegebenen Lyrikedition Hannover erschienen ist und gemeinsam mit zwei weiteren Neuerscheinungen der Edition ("überwintern" von Tabea Farnbacher und "Die fünfte Jahreszeit" von Annette Hagemann) im Rahmen eines Lyrikfestes im Künstlerhaus Hannover präsentiert wurde. Um es vorwegzunehmen: Nein, vom politischen Denken hat er sich nicht verabschiedet, seine Gedichte gehen noch immer dahin, wo es denkenden Menschen schmerzt. Seine Themen sind noch immer der Widerstand gegen Obrigkeiten und eine um sich greifende Verdummung, Ohnmacht vor staatlicher Willkür, sexuelle Übergriffigkeit, soziale Ungerechtigkeiten und Abhängigkeiten durch Technisierung:

der chatbot verrät den code zum schlüsselkasten
der schlüsselkasten enthält die chipkarte zum ferienhaus
der roboter mäht draußen das gras
der roboter saugt drinnen den staub
& der fernseher zeigt videos von ausflugszielen an
(aus: "yelp").

Bereits das erste Gedicht vertreibt jede Belanglosigkeit, konfrontiert den Leser mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. In "rodeln am Ettersberg" erzählt Sedelies von Schlittenspuren auf dem Ettersberg, wo die SS ab Sommer 1937 das KZ Buchenwald errichten ließ:
                       schlittenspuren
erzählen von atemwolken, fahrtwind & weißen flocken
im schal & gesicht

Was harmlos beginnt, endet im Tod. Geschickt verknüpft Sedelies im weiteren Fortgang die Viten rodelnder Kinder, das Zittern und Frösteln und Schreien, mit den Viten der-jenigen, die vor 80 Jahren dort ihr schreckliches Ende fanden; ebenfalls frierend, zitternd und schreiend – ein-geleitet durch ein Zitat des Leiters der Gedenkstätte Buchenwald: Wir dachten, es sei selbsterklärend, was für ein besonderer Ort das ist. Da liegen 3000 Tote. Aber den Menschen ist das nicht immer klar, wie die Erfahrung zeigt.
In meiner Rezension zu seinem Erstling schrieb ich damals, Sedelies‘ Texte hätten ihre stärksten Momente, wenn er die Position des reinen Beobachters verlasse und seine eigene Biografie mit dem Weltenlauf verknüpfe … und gewissermaßen trifft dies auch auf die neuen Gedichte zu. In "quetschiekultur" etwa, wo er seine Besorgnis formuliert, das Kind könne während einer Gedenkveranstaltung für die Opfer von Hanau genau in die Schweigeminute hineinbrüllen. Oder im titelgebenden Gedicht "kinetischer sand im getriebe", in dem eben das auftaucht, was einen Mann im mittleren Alter und jungen Vater neben Weltfrieden und Revolution ebenfalls beschäftigt: vorsorgetermin & steuererklärung, knetmasse mit feiner körnerstruktur, baustellen auf der A7, brechende lastenradrahmen & lieferketten.

Das Älterwerden, das Wegbrechen alter Freund- und Seilschaften, sei es aus Zeit- oder Ent-fernungsgründen, einhergehend mit einem ständigen Wechsel der Perspektive und dem Bewusstsein, dass sich die Koalitionen verschieben:

mögliche vertrauensfragen

es werden weniger
beim wöchentlichen treffen für die sache
& es werden mehr
die keinen sinn mehr
im sogenannten ganzen
sehen

es werden weniger
empört auf der straße
& es werden mehr
die lästernd oder erhaben
am rand die köpfe
schütteln

es werden weniger
stunden am tag
denen du der sache widmest
& es werden mehr
stunden voller verbitterung

umsomehr oder umsoweniger
kommt es darauf an
ob es dir noch wichtig ist
ob es darauf ankommt

Ein schöner und wichtiger Gedichtband einer Reihe, die in ebenso schlichter wie stilvoller Aufmachung (Hardcover, angenehme Typographie, roter Vorsatz und Lesebändchen) daherkommt – eine runde Sache, auch durch das Vorwort von Wilfried Köpke, der als Professor für Journalistik an der Hochschule Hannover lehrt und nicht nur auf das in nahezu jedem von Sedelies‘ Gedichten Verwendung findende &-Zeichen Bezug nimmt, sondern auch mit einigen ebenso schönen wie zutreffenden Sätzen sowie einer Kafka-Analogie (Als der Anarchist eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem Bausparvertragsunterzeichner verwandelt) aufwarten kann.


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