Jahrbuch der Lyrik 2021
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Sebastian Weirauch
Christoph Buchwald, Carolin Callies:
Jahrbuch der Lyrik 2021. Frankfurt am Main (Schöffling &Co). 2021. 264 S. 22,00
Euro.
»Erst wo sich alles berührt, wird es genau«
‒
Betrachtungen zum Jahrbuch der Lyrik 2021
In zwölf
Sektionen bietet das Jahrbuch der Lyrik 2021 einen Einblick in die
aktuelle Lyrikproduktion. Die einzelnen Sektionen tragen als Überschriften
Gedichtzitate, wie etwa »schu-schu, hier kommt der seuchenzug« oder »Ich sang
sanguinisch, vollblütig. Sang singluär, ohne Salär«. Ihren thematischen Fokus
offenbaren sie dabei nicht immer gleich. Bei genauerer Betrachtung allerdings
lassen sich zahlreiche klassische Lyrik-Sujets (Meer, Tod, Nacht, Gärten,
Natur, Liebe, Krankheit) und thematische Schwerpunkte (Übersetzungen,
Schreibreflexionen, Traditionsbezüge und politische Gedichte) ausmachen.
Bei einer
derart großen Menge an Gedichten kann eine Rezension keinen vollständigen
Überblick liefern. Aber frei nach der Zeile »Erst wo sich alles berührt, wird
es genau« aus Joachim Sartorius Beitrag In den Katakomben kann man
fragen, welche Berührungspunkte zwischen den einzelnen Texten entstehen; in dem
Kontext, den die Herausgeber durch ihre Auswahl erzeugt haben
Es fallen
zunächst zahlreiche Gegenwartsbezüge ins Auge: Gesellschaftspolitisch,
historisch und individuell aufgeladene Sprachreservoirs werden angezapft und
sich spielerisch, aber auch skeptisch mit Fragen wie Identität
auseinandergesetzt. Selten wird dem Zeitgeist gehuldigt. Der Sprechgestus ist
mehr fragend, prüfend. Krisenmomente werden nicht überschrieben, sondern in
streckenweise sehr konkrete Wahrnehmungs- und Erinnerungsszenen übertragen. Der
Grundton ist an vielen Stellen unaufgeregt, ja verhalten. In Christoph Wenzels In
den Seelenlandschaften sind die »erregungslinien am horizont« flach. Auch
in Hartwig Mauritz’ äpfel schälen. schafe wird das Hohe im Greifbaren,
Irdischen verortet: »schaut auf das gestirn in der frucht«.
In diesem
mimetischen Anschmiegen, wie man es der Lyrik oftmals zuschreibt, liegt wohl
auch etwas ethisches. In Rike Schefflers Becoming Water liest man:
»Weich sein heißt nicht einknicken./Freiwillig sich hingeben,//stärker als
Stein.«. Das wassergleiche »sich hingeben« sei keine Unbestimmtheit, sondern
eine Haltung. Vielleicht ein Gegenprogramm zur Ver-härtung und zum andauernden
Notstandsmodus der Gegenwart. In Karin Fellners Übergang ist dieses
Sich-verlieren aber auch ein Kontrollverlust, der das Ich zerstreut: »uns
schleifte ins Ungeprüfte, / [...] Habt ihr euch da nicht befürchtet?/Nö, die
Influencer meinten, es hülfe,/wenn wir in Rudeln stürben // [...] mein Ich
auszuziehen, die lustige Hülle«. Auch Fellners Text verfährt ohne großes
Pathos, mit einem umgangssprachlichen »Nö«.
In
Johannes Kühns Schafgarbe findet eine Zurücknahme von großen lyrischen
Gesten statt, die fast naturalistisch anmutet: »Besser als ich singen die Vögel
von dir«. Sprachmagische und mystische Versprechungen werden auch in Karla
Reimerts Welche Leidenschaften formen uns zu Geliebten? profanisiert.
Der körperlosen alchemistischen Kunst zieht das Ich die traumgleichen
Metamorphosen zwischen den Geschlechtern vor: »Im Traum verwandle ich mich in
Männer und Frauen, die ich liebe// [...] Was immer Gold Alchemisten bedeutet:
Diese Reben wissen besser, wie man sich erleuchtet«. Der Hang zum Alltäglichen
und zur sinnlich erfahrbaren Welt spricht auch aus Carmen Jauds delikat
essen, wo es dem oft brotlosen lyrischen Singen einer leiblichen,
sättigenden Qualität ermangelt: »aus den schönen/ singvögeln eine
taschenbouillon mehr wäre aus dem/luftigen nichts kaum zu gewinnen/ [...] der
gesang ist nicht zum verzehr/geeignet. gegessen wir immer nur der leib.« Jan
Kuhlbrodts Birnen beschreibt anschlussfähig daran eine Großmutter, deren
(leibliche) Not eine beträchtliche Erfindungsgabe freisetzte: »Die eingekochten
Birnen meiner Großmutter Marga//[...] Meine Urgroßmutter erfand so hieß es in
der Familie// wenn es um staatliche Unterstützung ging/ gern noch das eine oder
andere Kindlein hinzu// Sie sei sehr überzeugend gewesen«.
Das Jahrbuch
dokumentiert aber nicht nur die krisenhafte Zurücknahme lyrischen Sprechens
oder dessen Kopplung an Realien. Auch sprachschöpferische und
vorwärtsgerichtete Tendenzen zeichnen sich ab. Bemerkenswerte Neologismen und
Komposita häufen sich: »Angstgärten«, »Bärengetue«, »Sehnsuchtstannen« oder
»Dschungelkomplexe«. Es sind Wortschöpfungen für Bedrohliches, aber auch für
Neues und Ungekanntes. In Yevgeniy Breygers Im Auge des Sturms vollzieht
der Verfasser ein futurisches »[W]arten auf ein neues Singen«. Thorsten Krämers Auf dem Weg
nach Akihabara wiederum erinnert an surrealistische Poetiken,
wenn das Gedicht aus dem Nicht-Identischen, Transitorischen und der Bewegung
hervorzugehen scheint: »Es ist der Ruf einer Krähe/ am anderen Ende der Welt«.
Charakteristisch für die poetische Geste ist eben nicht nur das Stereotyp der
Achtsamkeit, sondern auch der Blick auf Ambivalentes, Abgelebtes oder
Abseitiges als Quelle von Schönheit. So bewegt sich Anna Hetzers Anatomie äußerst
bildhaft zwischen leiblichem Begehren und anatomischer Perspektive und
rearrangiert Stereotype zu einem Erotikgedicht, das den Eros gleichermaßen
seziert wie abwehrt: »du meine perlenfingernde nonne/ [...] keine halb
gespaltene kastanienhaut, stachlig/ oder als glatter huf. nein ‒ ich meine ‒
all das nicht«. Peter Zemla reizen zu einem ›neuen Singen‹ wiederum
nicht-menschliche Kreaturen, Parasiten: »Wir schaben mit/ fauligen
Zähnen hinter den Ohren,/ die Kopfhaut entlang, wir knuspern/ mit unseren
entzündeten Kiefern am/ Schenkelinnern und wo es heikel ist«.
Ein
weiterer thematischer Nexus bilden die Auseinandersetzung mit Traditionen und
das Spiel mit den damit verbundenen Gesten und Bedeutungen. Manchmal ist der
Ton hier fort-schreibend, so in Rosa Boths Mittleres Glück, wenn es in
Anlehnung an Wilhelm Müllers Winterreise heißt: »fremd zog ich ein/fremd
zieh ich aus/ganz nach der alten weise«. Dann wieder ist der Zugriff
spielerischer, kontrastiver. Etwa in Andreas Unterwegers Die Rummelsburger
See: »Unter den sieben Weltmeeren ist sie dasjenige, über das
niemand,/ nicht einmal Else Lasker-Schüler, je einen Shanty verfasst hat.« Mit dem Superlativ aus E.E.
Cummings Niemand,
nicht einmal der Regen wird in den Raum gestellt, dass das
Besungene so unbeachtet und poetisch abseitig sei, dass selbst die besagte
Dichterin es übersehen habe. Auch Ulf Stolterfohts krähe geht kunst ist
von zahlreichen (literatur-)historischen Referenzen durchzogen und Kathrin
Niemelas augustsonntag mit balzac befasst sich mit dem Mythos des
gleichnamigen Autors, der an der Gegenwarts- und Alltagsrealität aufgebrochen
und überzeichnet wird: »rar wie schlaf bei balzac, der sich tot gesoffen
hat,/sagt man, fünfzig kaffee lang die arbeitsnacht im/ mönchsgewand, aus den
augenhöhlen floss tinte,// [...] als sich die fixerin auf den boden legte,/rote
augen unter schwarzen lidern,/
boots mit eisenspitze, kapuze wie die kutte von balzac.« Auch über weitere Variationen
avantgardistischer Traditionen stolpert man. Einerseits die expressionistische
Spielart bei Asmus Trautsch in Apokalypsenende oder
andererseits die Schockmomente des surrealistischen Films bei Harry Oberländer
in hôtel du levant, bordeaux: »andalusische zirkusagenten die ihr
rasierzeug vergaßen«. Dass kulturelle Grabenkämpfe und Generationenkonflikte,
wie sie beim Umgang mit Traditionen immer eine Rolle spielen, nicht neu sind, sondern zur
Entwicklung der Kunst dazugehören, darum geht es in Arne Rautenbergs eine noch
kürzere geschichte der modernen kunst: »fegte schon die/ nächste
halbgeneration verwegen über sie und ihre veralteten/positionen hinweg so
wurden sie die letzten die merkten/dass sie längst eingegangen waren als
karikatur/ ihrer selbst richteten sie sich am routinebaum/ der ewig gestrigen«
.
Trotz der
Akzentsetzung des Jahrbuchs auf das der diskursiven Sprache nahestehende
Gedicht, fehlt es in der Anthologie nicht an Formbewusstsein; manchmal kommt
auch die Freude am Experimentieren hinzu. Das Gedicht DieS Geringelte
von Julia Trompeter spielt mit der Spannung von Klang, Semantik und Graphem:
»Kringelig geSchwungen,/dieS Geringelte./Schlingelig umSchlungen«. Urike
Draesners Beitrag heim(s)tücke mutet (de-)kompositorisch an; es wäre
spannend in Erfahrung zu bringen, welche u.a. lautlichen und semantischen
Ableitungsebenen die Worte in ihrer Abfolge miteinander verbinden: »streckst hand
lässt nieseln den peace/pace maker: shift! hing also schwingt körperlich/
zusammen bowing growing: das mamsi sing thing?«.
Es sind
aber auch klassischere Formbestände vertreten. Reimungen in Ursula Krechels Man
lernt nie aus und ein (»durchsiebt, was einmal geliebt«) oder in Àxel
Sanjosés Terzinen am Nachmittag (»das halbe tier da wie ein heimlich
zeichen«). Avantgardistische und klassische Schreibweisen treffen in Urs
Allemanns Klassizistische Aberration: Carruthers-Sonett aufeinander: »mit denen Onkel Joseph
(Stößigkeiten,/ Reindringlichkeiten) Beat pläblessierte,/ bis, weggehext
Fleischcrash, Verwesungspleiten«.
Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch Michael Augustins Collage ANSAUGEN
RAUSBLASEN,
die nicht nur als Hommage an Kurt Schwitters und den kürzlich verstorbenen Ror
Wolf begriffen werden kann, sondern ebenfalls als Auseinandersetzung mit dem
dichterischen Prozess, dem kreativen Umgang mit Wortmaterial.
Neben den
formbewussteren Texten sind auch die zahlreichen Übersetzungen ergiebig, die
sich zu den anderen Gedichten fügen, ihr tonales Register allerdings auch
erweitern. Im Gedächtnis bleibt Elias Knörrs von Konstantin Ames aus dem
Isländischen übersetzte Gedicht In die samtigste Windstille, das
mythologisch und recht derb daherkommt: »traf ich eine Walküre (oder sowas)//
[...] sie ließ mich mit einem heftigen Gewitter kommen«. Oder Dana Rangas
streckenweise surreales, von Ernest Wichner aus dem Rumänischen übersetzte In
einem Aquarium (»Werde ich niemals von der Erde zum Mond schwimmen?«). Des
weiteren wurde u.a. aus dem Afrikaans übersetzt von Sylvia Geist wie bei Dauer/Unterbrechung
von Charl-Pierre Naudé (»auf Satellitenschüsseln/ auf dem Hüttenmeer eines
algerischen Tals,/ [...] wie ein Schädelfeld in Südostasien.«) oder von Martina
Weber aus dem Amerikanischen im Fall von Eugene Ostashevskys 16., wo die
eingangs erwähnte Thematik des poetischen Sprechens aufgegriffen wird (»Es
gelang nicht, wie ich sang. Langte nicht hin // [...] Ja, wir wollen Worte, die
Münder machen«). Bemerkenswert ist zuletzt auch die T.S. Eliot-Übersetzung La
Figlia che Piange von Norbert Hummelt, die den Gegenwartsbezug des
Übersetzungsaktes an diesem historischen Text sichtbar werden lässt.
Die
Auseinandersetzung mit der Pandemie im Jahrbuch der Lyrik 2021 bleibt
nicht nur der Korona-Sektion »schu-schu, hier kommt der seuchenzug«
vorbehalten. Freiwillige und unfreiwillige Anspielungen finden sich an anderen
Stellen. Beispielsweise in Anke Bastrops Im Inneren des Bienenstocks über
eine Bienenkönigin mit einer »Korona/ aus Pollen«. Es wird aber auch explizit:
In Verica Trickovics FREMD|W|ORT |1 will jemand dem lyrischen Ich »den
Mundschutz von der Nase zu reißen« und in den titelgebenden Zeilen ihres Textes
fragt Ulrike Almut Sandig: »aber wissen wir denn, wer nach dieser Anleitung zum
Lachen auf/ Abstand noch da ist?«
Die zuletzt ohnehin grassierende
Apokalypsenthematik lässt ebenfalls nicht lange auf sich warten; sie wird
allerdings intelligent variiert. Etwa in Kerstin Beckers Visite: »ich
geb mir alle Mühen meinen Tierkörper zu ignorieren,/ die Schleimsysteme, die
Viren,/ ich muss mich ständig desinfizieren/ gegen das Apokalyptische in der
Luft«. Das Virus ist hier sprachlich, nämlich das »Apokalyptische« selbst. In
Florian Voß plage lachen »draußen auf den wiesen [...] die kinder dem
tod entgegen«, womit eine Tragik von Krankheit und Tod morbid bebildert wird,
ihr Ungenügen in Bezug auf die diffuse Bedrohung in der Gegenwart aber auch
mitgedacht ist. Sehr treffend gelingt Hellmuth Opitz in März. Und alles, was
danach kam die Übertragung der Isolationssituation ins
grammatikalisch-sprachliche Feld: »zerknülltes Futur, als wir [...] /Weltreisen
unternahmen/, die vom Bad via Küche bis ins Wohnzimmer führten«.
Man
erkennt in diesen unterschiedlichen Texten durchaus diskursive Positionen
wieder, die medial während der letzten beiden Jahre dominierten. Ist die
Pandemie das Ende? Chance der Ein- oder Umkehr? Eine mögliche Einsicht, wie in
Stefan Heuers WEIL WIR SELBST DAS VIRUS SIND? Der entstandene Wust von
Sprach- und Diskursmaterial bietet sich förmlich für Verballhornungen und
Sprachexperimente an, wie sie Lars-Arvid Brischke in die genese einer
genesung formuliert. Auch in Das kollektive Stillhalten der Füße wirft
Nora Gomringer einen komischen Blick auf einen manchmal hohlen Weltverbesserungssprech:
»Der Planet soll spüren, dass wir wieder willens sind, / eine Schicht aus ‒
mindestens ‒ guten Absichten um ihn zu krusten.«
Ergiebig
ist auch die Spiegelung der Seuche in historische Räume, wie bereits in der
Aids-Krise von Künstlern durchaus differenzierte Bezüge zum Mittelalter, dem
schwarzen Tod und den Strategien des Umgangs mit dem Phänomen Seuche
hergestellt wurden. In
Walle Sayers Mundschutz
tauchen
derartige Parallelen auf, die aber auch die krassen Unterschiede zwischen den
Krankheiten deutlich machen. Man liest, »daß im Mittelalter, in der frühen
Neuzeit, die Pestkarren/ nicht mehr mit Metall beschlagen werden durften, damit
das Klap-/ pern in den Straßen aufhörte, das dauerhafte Totengeläut ausgesetzt/
wurde und nur noch am Freitag für alle gemeinsam geläutet«. In Mikael Vogels gelungenem Poem Okiku-Puppe geht es
um die spanische Grippe und um einen fernöstlichen Kulturkreis. Als die
»Dreijährige Kikuko Suzuki von der Spanischen Grippe getötet wurde/ Sollen die
Haare ihrer Lieblingspuppe zu wachsen be-/ Gonnen haben...«.
Besonders gelungene Gedichte finden
sich über die gesamte Anthologie verstreut. Eine Anballung versammelt die
intensive Sektion »In die Nachtöffnung«. Zu nennen ist hier Tristan Marquardts
ethnologisch anmutendes Gedicht auszüge eines schlafkatalogs: »►
einschlaf/ [...] lässt sich aktiv nur/ suchen, nicht finden. ihn/ umzulegen,
ist handlung als/ handlungsverzicht [...].// ► tiefschlaf// phase, in der man,
wenn der schalter umgelegt ist, vergessen/ hat, dass es ihn gibt [...].// ► halbschlaf//
[...] noch nicht fähig zu/ steuern, welche dinge im/ gedankenstrom treiben«.
Oder Róža Domašcynas Liebesgedicht Das einzig akzeptable im nicht: »wir
nannten es: vor dem schlüpfen«. Oder auch die filmischen Einschlafessays von
Dominik Dombrowski: »Wir erzählten uns Einschlafessays/ über die letzten
Filme/ [...] oder wie man das Ende von Joker/ hätte besser gestalten
können«.
Auch in
den anderen Sektionen findet sich Außergewöhnliches. In Jan Wagners Gedicht karotten
wird wortreich ein vermeintlich profaner Gegenstand mit ungewöhnlichen Bildern
auf eine neue Weise sicht- und vorstellbar gemacht: »unterirdische
raketen,/karotten: wie von einem corbusier/entworfen«. Auch Franzobels
repetitives, Sterotype durchkauendes Gedicht Österreich ist schön sticht
heraus wie auch Wilhelm Bartschs Elementargedicht DER EISBERG ARARAT (»Der
Ararat bewacht das Urknallfeuer«). Zurückhaltend, aber ebenso überzeugend ist
Friederike Haerters WIR WAREN DIE LETZTEN, das unter Rückgriff auf
ländlich-sprichwörtliche Redensarten groteske Bilder um die Themen Altern und
Sterblichkeit entwickelt: »und die Alten sagten bald Sende/ es wurde am Ende
noch einmal gemäht/ geharkt auf den Wiesen/ Heuballen zu Pyramiden/ auf denen
kein Kind mehr saß/ übern Winter starb die Hoffnung/ wir Jungen wüchsen nach«.
Eine
besondere Intensität erzeugt auch David Krauses mit filmischen Zitaten
spielendes Poem Nullpunktenergie. Das lyrische Ich erinnert eine
Beziehungskonstellation (?), glaubt sie mit Zitaten, Brüchen und
Distanzierungen entwaffnen zu können, aber kann sich den vollendeten Tatsachen
nicht entziehen: »Ich drehe mich um, dabei wusste ich/aus den Geisterfilmen,
die wir liebten,/ schon lange, dass du verschwunden sein würdest«. Ein
gelungenes chronistisches Gedicht hat Mirko Wenig geschrieben. Konkrete historische
und politische Räume erzeugt Richtstatt Friedenshöhe aus seinem
Gegenstand heraus, einem Erinnerungsort; wobei bewusst auf unterschiedliche
Erzähl- und Tradierungsinstanzen rekurriert wird: »Ein Hügel liegt nördlich der
Stadt, und hier, so wird erzählt,/ sollten Sünder ihre Schuld abladen. Als
letzter Mord gesühnt/ an dieser Stelle: Die Frau des Handwerksmeisters/ schlug
ihrem Mann einen Nagel in den Kopf. Dies berichtet// F.L. Schmidt, Chronist der
Stadt«. Von seinem Zugang her bleibt auch Daniel Jurjews Wolfsstrudel im
Gedächtnis, das von Wortmärchen und kreativem Mißverstehen handelt: »Idee: Im
Vorarlbergischen/ Sei der Wolfsstrudel eine traditionelle Behelfsmahlzeit.// [...]
Wer Metaphern zerkleinern will,/ Braucht einen Fleischwolf/ [...] Genauso
wenig, wie Zitronenfalter/ Zitronen falten«.
Durchwachsenes oder Gedichte, die
dem Rezensenten nicht gefallen oder zu denen er keinen Zugang findet, gibt es
natürlich auch. Will man symptomatische Problemfälle oder Unent-schiedenheiten
herausarbeiten, dann bietet sich Dieter M. Gräfs Weitermalen an, das
wohl als Grenzüberschreitung verstanden werden möchte: »ich streng/ mich an:
fürs bedingungslose/ Grundeinkommen ‒ eures. Wollt ihr doch,/nach dem dritten
Stipendium eh. Dafür// schuften die Neger gerne./ Ich male jede/n von euch so
bunt, / wie er-sie sein möchte. Eher queer, oder// mit Kopftuch, Kippa?, töne/
alles ins Hippe, weiß ja,/was die Stunde schlägt. Soll ich// nachts, wenn Gute
schlafen, wirklich/ diesen querschnittsgelähmten Maler bringen?/ mit für ihn
entwickelter Schiene,// so dass seine Linke die Malerhand führen kann/ [...]«.
Das
lyrische Ich, der Autor (?) möchte die ehemalige »Bundeskanzlerin« malen, als
sei er ein »Warholmaoist«. In freien, dreiversigen Strophen sowie mit
Alliterationen und unreinen Reimungen wird mit einem allzu oberflächlichen
Zeitgeist abgerechnet. Political Correctness wird nachgeeifert, weil sie in
Mode ist, während man einen querschnittgelähmten Maler, der sich »aufs Klo«
müht, links liegen lässt. Mit dem titelgebenden Weitermalen will das
lyrische Ich aber gerade dessen Tun fortsetzen und die Bigotterie der Zeit
entlarven: »Ich male dann, wie/ er im Rollstuhl sitzt//[...] mal die,//die
seine Bilder abhängen, ihre/rechtschaffenden,
fortschritt-lichen/Gesichter./Wollt ihr sie sehen?«. Hier stellt sich das
lyrische Ich nicht ganz ohne Pathos auf die Seite der wahrhaft Abgehängten, der
kreatürlich Marginalisierten und positioniert sich gegen eine heuchlerisch
wirkende Symbolwelt. Dieser Punkt geht an den Dichter, wenn man wahrzunehmen
bereit ist, dass Schlagworte wie »Diversität« tatsächlich oberflächlich
über-nommen werden können, während unter der Hand das alte sozialdarwinistische
Spiel (die Hackordnung) ungerührt fortgesetzt wird.
Bei den
mittleren Versen des Gedichts wird es dann aber einseitig: »ich streng/ mich
an: fürs bedingungslose/ Grundeinkommen ‒ eures. Wollt ihr doch,/nach dem
dritten Stipendium eh. Dafür/ schuften die Neger gerne.«. Mit diesem säuerlichen
Ton kann man bestimmte Milieus sicherlich gut provozieren. Hier schwingt aber
auch die alte Die-arbeiten-nicht-Aber-leben-trotzdem-Kritik mit, die in ihrer
völligen Blüte bekanntermaßen auch vor körperlich beeinträchtigten Menschen
nicht Halt machte ‒ wie u.a.
Querschnittsgelähmten. Und schuften für die Stipendien oder das nicht
einmal mehrheitsfähige Grundeinkommen wirklich »Neger«, oder muss das hier
einfach gebracht werden, weil es Die da oben bzw. deren arrivierten und
gelegentlich wenig konfliktfähigen Nachwuchs (Stichwort: Cancel Culture)
treffen soll? Was ist denn mit schwarzen Menschen, die Stipendien bekommen,
usw.? Aber hoffentlich fordert niemand ein Verbot dieses Gedichts wegen der
Verwendung diffamierender Begrifflichkeiten, es würde seiner polemischen Anlage
nur Munition geben.
Letztlich
jedoch findet auch dieses Gedicht seinen Platz in der Anthologie. »Erst wo sich
alles berührt, wird es genau«, dieser Vers lässt sich auf das Jahrbuch der
Lyrik 2021 gut übertragen, in dem beim Lesen ein Netz von wiederkehrenden
Themen, Motiven, ja auch Bildern hervortritt. Und auch die einzelnen Gedichte
suchen nach Zugängen zu kollektiven und individuellen Welten, wobei es zumeist
ein großes Bewusstsein für das prekäre Verhältnis zwischen dem Eigenen und dem
Anderen gibt, wie auch für die Unmöglichkeit, die Wirklichkeit und ihre
Komplexität in nur einem Gedicht erfassen zu können.