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Jahrbuch der Lyrik 2021

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Sebastian Weirauch

Christoph Buchwald, Carolin Callies: Jahrbuch der Lyrik 2021. Frankfurt am Main (Schöffling &Co). 2021. 264 S. 22,00 Euro.

»Erst wo sich alles berührt, wird es genau« ‒
Betrachtungen zum Jahrbuch der Lyrik 2021


In zwölf Sektionen bietet das Jahrbuch der Lyrik 2021 einen Einblick in die aktuelle Lyrikproduktion. Die einzelnen Sektionen tragen als Überschriften Gedichtzitate, wie etwa »schu-schu, hier kommt der seuchenzug« oder »Ich sang sanguinisch, vollblütig. Sang singluär, ohne Salär«. Ihren thematischen Fokus offenbaren sie dabei nicht immer gleich. Bei genauerer Betrachtung allerdings lassen sich zahlreiche klassische Lyrik-Sujets (Meer, Tod, Nacht, Gärten, Natur, Liebe, Krankheit) und thematische Schwerpunkte (Übersetzungen, Schreibreflexionen, Traditionsbezüge und politische Gedichte) ausmachen.
      Bei einer derart großen Menge an Gedichten kann eine Rezension keinen vollständigen Überblick liefern. Aber frei nach der Zeile »Erst wo sich alles berührt, wird es genau« aus Joachim Sartorius Beitrag In den Katakomben kann man fragen, welche Berührungspunkte zwischen den einzelnen Texten entstehen; in dem Kontext, den die Herausgeber durch ihre Auswahl erzeugt haben
        Es fallen zunächst zahlreiche Gegenwartsbezüge ins Auge: Gesellschaftspolitisch, historisch und individuell aufgeladene Sprachreservoirs werden angezapft und sich spielerisch, aber auch skeptisch mit Fragen wie Identität auseinandergesetzt. Selten wird dem Zeitgeist gehuldigt. Der Sprechgestus ist mehr fragend, prüfend. Krisenmomente werden nicht überschrieben, sondern in streckenweise sehr konkrete Wahrnehmungs- und Erinnerungsszenen übertragen. Der Grundton ist an vielen Stellen unaufgeregt, ja verhalten. In Christoph Wenzels In den Seelenlandschaften sind die »erregungslinien am horizont« flach. Auch in Hartwig Mauritz’ äpfel schälen. schafe wird das Hohe im Greifbaren, Irdischen verortet: »schaut auf das gestirn in der frucht«.

In diesem mimetischen Anschmiegen, wie man es der Lyrik oftmals zuschreibt, liegt wohl auch etwas ethisches. In Rike Schefflers Becoming Water liest man: »Weich sein heißt nicht einknicken./Freiwillig sich hingeben,//stärker als Stein.«. Das wassergleiche »sich hingeben« sei keine Unbestimmtheit, sondern eine Haltung. Vielleicht ein Gegenprogramm zur Ver-härtung und zum andauernden Notstandsmodus der Gegenwart. In Karin Fellners Übergang ist dieses Sich-verlieren aber auch ein Kontrollverlust, der das Ich zerstreut: »uns schleifte ins Ungeprüfte, / [...] Habt ihr euch da nicht befürchtet?/Nö, die Influencer meinten, es hülfe,/wenn wir in Rudeln stürben // [...] mein Ich auszuziehen, die lustige Hülle«. Auch Fellners Text verfährt ohne großes Pathos, mit einem umgangssprachlichen »Nö«.

In Johannes Kühns Schafgarbe findet eine Zurücknahme von großen lyrischen Gesten statt, die fast naturalistisch anmutet: »Besser als ich singen die Vögel von dir«. Sprachmagische und mystische Versprechungen werden auch in Karla Reimerts Welche Leidenschaften formen uns zu Geliebten? profanisiert. Der körperlosen alchemistischen Kunst zieht das Ich die traumgleichen Metamorphosen zwischen den Geschlechtern vor: »Im Traum verwandle ich mich in Männer und Frauen, die ich liebe// [...] Was immer Gold Alchemisten bedeutet: Diese Reben wissen besser, wie man sich erleuchtet«. Der Hang zum Alltäglichen und zur sinnlich erfahrbaren Welt spricht auch aus Carmen Jauds delikat essen, wo es dem oft brotlosen lyrischen Singen einer leiblichen, sättigenden Qualität ermangelt: »aus den schönen/ singvögeln eine taschenbouillon mehr wäre aus dem/luftigen nichts kaum zu gewinnen/ [...] der gesang ist nicht zum verzehr/geeignet. gegessen wir immer nur der leib.« Jan Kuhlbrodts Birnen beschreibt anschlussfähig daran eine Großmutter, deren (leibliche) Not eine beträchtliche Erfindungsgabe freisetzte: »Die eingekochten Birnen meiner Großmutter Marga//[...] Meine Urgroßmutter erfand so hieß es in der Familie// wenn es um staatliche Unterstützung ging/ gern noch das eine oder andere Kindlein hinzu// Sie sei sehr überzeugend gewesen«.   
       Das Jahrbuch dokumentiert aber nicht nur die krisenhafte Zurücknahme lyrischen Sprechens oder dessen Kopplung an Realien. Auch sprachschöpferische und vorwärtsgerichtete Tendenzen zeichnen sich ab. Bemerkenswerte Neologismen und Komposita häufen sich: »Angstgärten«, »Bärengetue«, »Sehnsuchtstannen« oder »Dschungelkomplexe«. Es sind Wortschöpfungen für Bedrohliches, aber auch für Neues und Ungekanntes. In Yevgeniy Breygers Im Auge des Sturms vollzieht der Verfasser ein futurisches »[W]arten auf ein neues Singen«. Thorsten Krämers Auf dem Weg nach Akihabara wiederum erinnert an surrealistische Poetiken, wenn das Gedicht aus dem Nicht-Identischen, Transitorischen und der Bewegung hervorzugehen scheint: »Es ist der Ruf einer Krähe/ am anderen Ende der Welt«. Charakteristisch für die poetische Geste ist eben nicht nur das Stereotyp der Achtsamkeit, sondern auch der Blick auf Ambivalentes, Abgelebtes oder Abseitiges als Quelle von Schönheit. So bewegt sich Anna Hetzers Anatomie äußerst bildhaft zwischen leiblichem Begehren und anatomischer Perspektive und rearrangiert Stereotype zu einem Erotikgedicht, das den Eros gleichermaßen seziert wie abwehrt: »du meine perlenfingernde nonne/ [...] keine halb gespaltene kastanienhaut, stachlig/ oder als glatter huf. nein ‒ ich meine ‒ all das nicht«. Peter Zemla reizen zu einem ›neuen Singen‹ wiederum nicht-menschliche Kreaturen, Parasiten: »Wir schaben mit/ fauligen Zähnen hinter den Ohren,/ die Kopfhaut entlang, wir knuspern/ mit unseren entzündeten Kiefern am/ Schenkelinnern und wo es heikel ist«.
      Ein weiterer thematischer Nexus bilden die Auseinandersetzung mit Traditionen und das Spiel mit den damit verbundenen Gesten und Bedeutungen. Manchmal ist der Ton hier fort-schreibend, so in Rosa Boths Mittleres Glück, wenn es in Anlehnung an Wilhelm Müllers Winterreise heißt: »fremd zog ich ein/fremd zieh ich aus/ganz nach der alten weise«. Dann wieder ist der Zugriff spielerischer, kontrastiver. Etwa in Andreas Unterwegers Die Rummelsburger See: »Unter den sieben Weltmeeren ist sie dasjenige, über das niemand,/ nicht einmal Else Lasker-Schüler, je einen Shanty verfasst hat.« Mit dem Superlativ aus E.E. Cummings Niemand, nicht einmal der Regen wird in den Raum gestellt, dass das Besungene so unbeachtet und poetisch abseitig sei, dass selbst die besagte Dichterin es übersehen habe. Auch Ulf Stolterfohts krähe geht kunst ist von zahlreichen (literatur-)historischen Referenzen durchzogen und Kathrin Niemelas augustsonntag mit balzac befasst sich mit dem Mythos des gleichnamigen Autors, der an der Gegenwarts- und Alltagsrealität aufgebrochen und überzeichnet wird: »rar wie schlaf bei balzac, der sich tot gesoffen hat,/sagt man, fünfzig kaffee lang die arbeitsnacht im/ mönchsgewand, aus den augenhöhlen floss tinte,// [...] als sich die fixerin auf den boden legte,/rote augen unter schwarzen lidern,/ boots mit eisenspitze, kapuze wie die kutte von balzac.« Auch über weitere Variationen avantgardistischer Traditionen stolpert man. Einerseits die expressionistische Spielart bei Asmus Trautsch in Apokalypsenende oder andererseits die Schockmomente des surrealistischen Films bei Harry Oberländer in hôtel du levant, bordeaux: »andalusische zirkusagenten die ihr rasierzeug vergaßen«. Dass kulturelle Grabenkämpfe und Generationenkonflikte, wie sie beim Umgang mit Traditionen immer eine Rolle spielen, nicht neu sind, sondern zur Entwicklung der Kunst dazugehören, darum geht es in Arne Rautenbergs eine noch kürzere geschichte der modernen kunst: »fegte schon die/ nächste halbgeneration verwegen über sie und ihre veralteten/positionen hinweg so wurden sie die letzten die merkten/dass sie längst eingegangen waren als karikatur/ ihrer selbst richteten sie sich am routinebaum/ der ewig gestrigen« .
      Trotz der Akzentsetzung des Jahrbuchs auf das der diskursiven Sprache nahestehende Gedicht, fehlt es in der Anthologie nicht an Formbewusstsein; manchmal kommt auch die Freude am Experimentieren hinzu. Das Gedicht DieS Geringelte von Julia Trompeter spielt mit der Spannung von Klang, Semantik und Graphem: »Kringelig geSchwungen,/dieS Geringelte./Schlingelig umSchlungen«. Urike Draesners Beitrag heim(s)tücke mutet (de-)kompositorisch an; es wäre spannend in Erfahrung zu bringen, welche u.a. lautlichen und semantischen Ableitungsebenen die Worte in ihrer Abfolge miteinander verbinden: »streckst hand lässt nieseln den peace/pace maker: shift! hing also schwingt körperlich/ zusammen bowing growing: das mamsi sing thing?«.
       Es sind aber auch klassischere Formbestände vertreten. Reimungen in Ursula Krechels Man lernt nie aus und ein (»durchsiebt, was einmal geliebt«) oder in Àxel Sanjosés Terzinen am Nachmittag (»das halbe tier da wie ein heimlich zeichen«). Avantgardistische und klassische Schreibweisen treffen in Urs Allemanns Klassizistische Aberration: Carruthers-Sonett aufeinander: »mit denen Onkel Joseph (Stößigkeiten,/ Reindringlichkeiten) Beat pläblessierte,/ bis, weggehext Fleischcrash, Verwesungspleiten«. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch Michael Augustins Collage ANSAUGEN RAUSBLASEN, die nicht nur als Hommage an Kurt Schwitters und den kürzlich verstorbenen Ror Wolf begriffen werden kann, sondern ebenfalls als Auseinandersetzung mit dem dichterischen Prozess, dem kreativen Umgang mit Wortmaterial.
      Neben den formbewussteren Texten sind auch die zahlreichen Übersetzungen ergiebig, die sich zu den anderen Gedichten fügen, ihr tonales Register allerdings auch erweitern. Im Gedächtnis bleibt Elias Knörrs von Konstantin Ames aus dem Isländischen übersetzte Gedicht In die samtigste Windstille, das mythologisch und recht derb daherkommt: »traf ich eine Walküre (oder sowas)// [...] sie ließ mich mit einem heftigen Gewitter kommen«. Oder Dana Rangas streckenweise surreales, von Ernest Wichner aus dem Rumänischen übersetzte In einem Aquarium (»Werde ich niemals von der Erde zum Mond schwimmen?«). Des weiteren wurde u.a. aus dem Afrikaans übersetzt von Sylvia Geist wie bei Dauer/Unterbrechung von Charl-Pierre Naudé (»auf Satellitenschüsseln/ auf dem Hüttenmeer eines algerischen Tals,/ [...] wie ein Schädelfeld in Südostasien.«) oder von Martina Weber aus dem Amerikanischen im Fall von Eugene Ostashevskys 16., wo die eingangs erwähnte Thematik des poetischen Sprechens aufgegriffen wird (»Es gelang nicht, wie ich sang. Langte nicht hin // [...] Ja, wir wollen Worte, die Münder machen«). Bemerkenswert ist zuletzt auch die T.S. Eliot-Übersetzung La Figlia che Piange von Norbert Hummelt, die den Gegenwartsbezug des Übersetzungsaktes an diesem historischen Text sichtbar werden lässt.
       Die Auseinandersetzung mit der Pandemie im Jahrbuch der Lyrik 2021 bleibt nicht nur der Korona-Sektion »schu-schu, hier kommt der seuchenzug« vorbehalten. Freiwillige und unfreiwillige Anspielungen finden sich an anderen Stellen. Beispielsweise in Anke Bastrops Im Inneren des Bienenstocks über eine Bienenkönigin mit einer »Korona/ aus Pollen«. Es wird aber auch explizit: In Verica Trickovics FREMD|W|ORT |1 will jemand dem lyrischen Ich »den Mundschutz von der Nase zu reißen« und in den titelgebenden Zeilen ihres Textes fragt Ulrike Almut Sandig: »aber wissen wir denn, wer nach dieser Anleitung zum Lachen auf/ Abstand noch da ist?«
      Die zuletzt ohnehin grassierende Apokalypsenthematik lässt ebenfalls nicht lange auf sich warten; sie wird allerdings intelligent variiert. Etwa in Kerstin Beckers Visite: »ich geb mir alle Mühen meinen Tierkörper zu ignorieren,/ die Schleimsysteme, die Viren,/ ich muss mich ständig desinfizieren/ gegen das Apokalyptische in der Luft«. Das Virus ist hier sprachlich, nämlich das »Apokalyptische« selbst. In Florian Voß plage lachen »draußen auf den wiesen [...] die kinder dem tod entgegen«, womit eine Tragik von Krankheit und Tod morbid bebildert wird, ihr Ungenügen in Bezug auf die diffuse Bedrohung in der Gegenwart aber auch mitgedacht ist. Sehr treffend gelingt Hellmuth Opitz in März. Und alles, was danach kam die Übertragung der Isolationssituation ins grammatikalisch-sprachliche Feld: »zerknülltes Futur, als wir [...] /Weltreisen unternahmen/, die vom Bad via Küche bis ins Wohnzimmer führten«.    
       Man erkennt in diesen unterschiedlichen Texten durchaus diskursive Positionen wieder, die medial während der letzten beiden Jahre dominierten. Ist die Pandemie das Ende? Chance der Ein- oder Umkehr? Eine mögliche Einsicht, wie in Stefan Heuers WEIL WIR SELBST DAS VIRUS SIND? Der entstandene Wust von Sprach- und Diskursmaterial bietet sich förmlich für Verballhornungen und Sprachexperimente an, wie sie Lars-Arvid Brischke in die genese einer genesung formuliert. Auch in Das kollektive Stillhalten der Füße wirft Nora Gomringer einen komischen Blick auf einen manchmal hohlen Weltverbesserungssprech: »Der Planet soll spüren, dass wir wieder willens sind, / eine Schicht aus ‒ mindestens ‒ guten Absichten um ihn zu krusten.«
       Ergiebig ist auch die Spiegelung der Seuche in historische Räume, wie bereits in der Aids-Krise von Künstlern durchaus differenzierte Bezüge zum Mittelalter, dem schwarzen Tod und den Strategien des Umgangs mit dem Phänomen Seuche hergestellt wurden. In Walle Sayers Mundschutz tauchen derartige Parallelen auf, die aber auch die krassen Unterschiede zwischen den Krankheiten deutlich machen. Man liest, »daß im Mittelalter, in der frühen Neuzeit, die Pestkarren/ nicht mehr mit Metall beschlagen werden durften, damit das Klap-/ pern in den Straßen aufhörte, das dauerhafte Totengeläut ausgesetzt/ wurde und nur noch am Freitag für alle gemeinsam geläutet«. In Mikael Vogels gelungenem Poem Okiku-Puppe geht es um die spanische Grippe und um einen fernöstlichen Kulturkreis. Als die »Dreijährige Kikuko Suzuki von der Spanischen Grippe getötet wurde/ Sollen die Haare ihrer Lieblingspuppe zu wachsen be-/ Gonnen haben...«.
    Besonders gelungene Gedichte finden sich über die gesamte Anthologie verstreut. Eine Anballung versammelt die intensive Sektion »In die Nachtöffnung«. Zu nennen ist hier Tristan Marquardts ethnologisch anmutendes Gedicht auszüge eines schlafkatalogs: »► einschlaf/ [...] lässt sich aktiv nur/ suchen, nicht finden. ihn/ umzulegen, ist handlung als/ handlungsverzicht [...].// ► tiefschlaf// phase, in der man, wenn der schalter umgelegt ist, vergessen/ hat, dass es ihn gibt [...].// ► halbschlaf// [...] noch nicht fähig zu/ steuern, welche dinge im/ gedankenstrom treiben«. Oder Róža Domašcynas Liebesgedicht Das einzig akzeptable im nicht: »wir nannten es: vor dem schlüpfen«. Oder auch die filmischen Einschlafessays von Dominik Dombrowski: »Wir erzählten uns Einschlafessays/ über die letzten Filme/ [...] oder wie man das Ende von Joker/ hätte besser gestalten können«.
     Auch in den anderen Sektionen findet sich Außergewöhnliches. In Jan Wagners Gedicht karotten wird wortreich ein vermeintlich profaner Gegenstand mit ungewöhnlichen Bildern auf eine neue Weise sicht- und vorstellbar gemacht: »unterirdische raketen,/karotten: wie von einem corbusier/entworfen«. Auch Franzobels repetitives, Sterotype durchkauendes Gedicht Österreich ist schön sticht heraus wie auch Wilhelm Bartschs Elementargedicht DER EISBERG ARARAT (»Der Ararat bewacht das Urknallfeuer«). Zurückhaltend, aber ebenso überzeugend ist Friederike Haerters WIR WAREN DIE LETZTEN, das unter Rückgriff auf ländlich-sprichwörtliche Redensarten groteske Bilder um die Themen Altern und Sterblichkeit entwickelt: »und die Alten sagten bald Sende/ es wurde am Ende noch einmal gemäht/ geharkt auf den Wiesen/ Heuballen zu Pyramiden/ auf denen kein Kind mehr saß/ übern Winter starb die Hoffnung/ wir Jungen wüchsen nach«.
      Eine besondere Intensität erzeugt auch David Krauses mit filmischen Zitaten spielendes Poem Nullpunktenergie. Das lyrische Ich erinnert eine Beziehungskonstellation (?), glaubt sie mit Zitaten, Brüchen und Distanzierungen entwaffnen zu können, aber kann sich den vollendeten Tatsachen nicht entziehen: »Ich drehe mich um, dabei wusste ich/aus den Geisterfilmen, die wir liebten,/ schon lange, dass du verschwunden sein würdest«. Ein gelungenes chronistisches Gedicht hat Mirko Wenig geschrieben. Konkrete historische und politische Räume erzeugt Richtstatt Friedenshöhe aus seinem Gegenstand heraus, einem Erinnerungsort; wobei bewusst auf unterschiedliche Erzähl- und Tradierungsinstanzen rekurriert wird: »Ein Hügel liegt nördlich der Stadt, und hier, so wird erzählt,/ sollten Sünder ihre Schuld abladen. Als letzter Mord gesühnt/ an dieser Stelle: Die Frau des Handwerksmeisters/ schlug ihrem Mann einen Nagel in den Kopf. Dies berichtet// F.L. Schmidt, Chronist der Stadt«. Von seinem Zugang her bleibt auch Daniel Jurjews Wolfsstrudel im Gedächtnis, das von Wortmärchen und kreativem Mißverstehen handelt: »Idee: Im Vorarlbergischen/ Sei der Wolfsstrudel eine traditionelle Behelfsmahlzeit.// [...] Wer Metaphern zerkleinern will,/ Braucht einen Fleischwolf/ [...] Genauso wenig, wie Zitronenfalter/ Zitronen falten«.
       Durchwachsenes oder Gedichte, die dem Rezensenten nicht gefallen oder zu denen er keinen Zugang findet, gibt es natürlich auch. Will man symptomatische Problemfälle oder Unent-schiedenheiten herausarbeiten, dann bietet sich Dieter M. Gräfs Weitermalen an, das wohl als Grenzüberschreitung verstanden werden möchte: »ich streng/ mich an: fürs bedingungslose/ Grundeinkommen ‒ eures. Wollt ihr doch,/nach dem dritten Stipendium eh. Dafür// schuften die Neger gerne./ Ich male jede/n von euch so bunt, / wie er-sie sein möchte. Eher queer, oder// mit Kopftuch, Kippa?, töne/ alles ins Hippe, weiß ja,/was die Stunde schlägt. Soll ich// nachts, wenn Gute schlafen, wirklich/ diesen querschnittsgelähmten Maler bringen?/ mit für ihn entwickelter Schiene,// so dass seine Linke die Malerhand führen kann/ [...]«.
       Das lyrische Ich, der Autor (?) möchte die ehemalige »Bundeskanzlerin« malen, als sei er ein »Warholmaoist«. In freien, dreiversigen Strophen sowie mit Alliterationen und unreinen Reimungen wird mit einem allzu oberflächlichen Zeitgeist abgerechnet. Political Correctness wird nachgeeifert, weil sie in Mode ist, während man einen querschnittgelähmten Maler, der sich »aufs Klo« müht, links liegen lässt. Mit dem titelgebenden Weitermalen will das lyrische Ich aber gerade dessen Tun fortsetzen und die Bigotterie der Zeit entlarven: »Ich male dann, wie/ er im Rollstuhl sitzt//[...] mal die,//die seine Bilder abhängen, ihre/rechtschaffenden, fortschritt-lichen/Gesichter./Wollt ihr sie sehen?«. Hier stellt sich das lyrische Ich nicht ganz ohne Pathos auf die Seite der wahrhaft Abgehängten, der kreatürlich Marginalisierten und positioniert sich gegen eine heuchlerisch wirkende Symbolwelt. Dieser Punkt geht an den Dichter, wenn man wahrzunehmen bereit ist, dass Schlagworte wie »Diversität« tatsächlich oberflächlich über-nommen werden können, während unter der Hand das alte sozialdarwinistische Spiel (die Hackordnung) ungerührt fortgesetzt wird.
       Bei den mittleren Versen des Gedichts wird es dann aber einseitig: »ich streng/ mich an: fürs bedingungslose/ Grundeinkommen ‒ eures. Wollt ihr doch,/nach dem dritten Stipendium eh. Dafür/ schuften die Neger gerne.«. Mit diesem säuerlichen Ton kann man bestimmte Milieus sicherlich gut provozieren. Hier schwingt aber auch die alte Die-arbeiten-nicht-Aber-leben-trotzdem-Kritik mit, die in ihrer völligen Blüte bekanntermaßen auch vor körperlich beeinträchtigten Menschen nicht Halt machte ‒ wie u.a. Querschnittsgelähmten. Und schuften für die Stipendien oder das nicht einmal mehrheitsfähige Grundeinkommen wirklich »Neger«, oder muss das hier einfach gebracht werden, weil es Die da oben bzw. deren arrivierten und gelegentlich wenig konfliktfähigen Nachwuchs (Stichwort: Cancel Culture) treffen soll? Was ist denn mit schwarzen Menschen, die Stipendien bekommen, usw.? Aber hoffentlich fordert niemand ein Verbot dieses Gedichts wegen der Verwendung diffamierender Begrifflichkeiten, es würde seiner polemischen Anlage nur Munition geben.  
      Letztlich jedoch findet auch dieses Gedicht seinen Platz in der Anthologie. »Erst wo sich alles berührt, wird es genau«, dieser Vers lässt sich auf das Jahrbuch der Lyrik 2021 gut übertragen, in dem beim Lesen ein Netz von wiederkehrenden Themen, Motiven, ja auch Bildern hervortritt. Und auch die einzelnen Gedichte suchen nach Zugängen zu kollektiven und individuellen Welten, wobei es zumeist ein großes Bewusstsein für das prekäre Verhältnis zwischen dem Eigenen und dem Anderen gibt, wie auch für die Unmöglichkeit, die Wirklichkeit und ihre Komplexität in nur einem Gedicht erfassen zu können.


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