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Jahrbuch der Lyrik 2020

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Stefan Hölscher

(Dagmara Kraus, Christian Buchwald:) Jahrbuch der Lyrik 2020. Frankfurt a.M. (Schöffling & Co.) 2020. 248 Seiten. 22,00 Euro.

Betrachtenswerte Mischverhältnisse


Wenn ich ein neu erschienenes Jahrbuch der Lyrik aufschlage, stellen sich mir besonders folgende Fragen: Werde ich wohl darin hinreichend viele Gedichte finden, die mich beschäftigen und inspirieren? Was für einen Mix von Gedichten bringt dieses Jahrbuch, was ist der besondere Stempel des jeweiligen Herausgebertandems? Welche thematischen Facetten finden sich verstärkt in den Texten? Und wie schätze ich das Jahrbuch unter dem Gesichtspunkt ein, ob es vor allem für ausgesuchte Lyrikkenner*innen geeignet ist oder darüber hinaus auch für Menschen, die sich für Literatur zu begeistern vermögen, ohne Expert*innen im Feld der Gegenwartslyrik zu sein?
    Die letzte Frage ist dabei eigentlich keine echte mehr; denn die Jahrbücher der Lyrik sehen ja schon lange so aus, dass sie vor allem von Lyriker*innen für Lyriker*innen geschrieben sind und sich nur noch ziemlich selten andere Zeitgenossen in die Lektüre dieser Bücher hineinbegeben. Auch das aktuelle Jahrbuch muss ähnlich seinen Vorgängern aus den letzten Jahren primär als In-Group-Produkt betrachtet werden, wie es ja auch die mittlerweile eher homöopathischen Auflagezahlen der Jahrbücher dokumentieren. Dies kann man schlicht als Tatsache ansehen („es ist nun mal so“); man kann es bedauern, weil hier ja potenziell nicht wenige Literaturinteressierte grundsätzlich nicht mehr erreicht werden, oder man kann es für eine Stärke halten, Ausdruck einer spezifischen Genrequalität, die ihren Preis darin fordert, dass sie von weniger Kundigen nicht mehr verstanden werden kann. Drei verschiedene Betrachtungsweisen, die sich grundsätzlich nicht einmal wechselseitig ausschließen müssen.
    Die wichtigste Frage, die mich als Leser ganz egoistisch umtreibt, ist nun allerdings die, ob es hinreichend viele mich bewegende Gedichte in dem Buch gibt. Und um diese Frage hier gleich zu beantworten: Es gibt sie. Und dies ist natürlich durch und durch subjektiv: die ganz persönliche Liste der für den jeweils Lesenden besonders spannenden im Verhältnis zu den für ihn/sie weniger spannenden Texten.
   Nicht vollkommen frei von subjektiven Erwägungen und Vorlieben ist aber natürlich auch schon die Auswahl der Gedichte im jeweiligen Jahrbuch durch das jeweilige Herausgebertandem, im Fall des aktuellen Jahrbuchs: Christoph Buchwald als Dauerherausgeber und Dagmara Kraus als Mitherausgeberin des 2020 Jahrbuchs. In seinem Nachwort stellt Christoph Buchwald, der das Thema der Auswahlkriterien in unterschiedlichen Variationen am Ende der Jahrbücher immer mal wieder anspricht, bezogen auf die Frage einer „Dame aus Pforzheim“ an „einen Autor, der schon öfter im Jahrbuch vertreten war“, „ob man da nicht Beziehungen haben müsse, fest: „Beziehungen helfen nicht.“  Und das wollen wir glauben. Noch spannender als diese Aussage fände ich es allerdings, wenn das jeweilige Herausgeberpaar seine Kriterien und damit dann auch den durch diese Kriterien gesetzten Stempel der Auswahl selbst reflektieren würde. Warum? Erstens weil es doch recht signifikante Unterschiede in den ausgesuchten Textensembles der einzelnen Jahrbücher gibt, und zweitens, weil Aus-wahlkriterien immer auch eine konstruktivistische, eine bei aller Fachkundigkeit subjektive Perspektive mitbeinhalten, deren explizitere Beleuchtung in vielerlei Hinsicht sowohl für die Auswählenden wie auch das Publikum lohnend sein könnte.
Doch zurück zur Hauptfrage der besonders spannenden Gedichte. Gleich im Klappentext heißt es: „Auffallend in diesem Jahr ist die Zunahme der Gedichte mit dystopischen Bildern, die man als Kritik an oder als Kommentar zu den Versäumnissen der Gegenwart lesen könnte.“ Auffällig mag dieses Phänomen sein – überraschend ist es sicher nicht. Überraschend wäre es umgekehrt, wenn angesichts der ökologischen und politischen Dynamiken, in denen sich unsere Welt bewegt, „dystopische Bilder“ hier kaum oder gar nicht auftauchen würden. Viele der Gedichte haben also direkt oder indirekt solche Bezüge.

Stark fand ich vor diesem Hintergrund zum Beispiel Gedichte wie den im 2. Kapitel (aus geworfenen steinen) stehenden Text Metamorphose von Kornelia Koepsell, der die gleichermaßen gewalttätigen wie grotesken Daseinserschei-nungen des aus geworfenen Steinen gewachsenen harten Geschlechts grell beleuchtet. Oder schwarzmilan von José F.A. Oliver, ein Gedicht, in dem es um die Heimatverlorenheit und existenzielle Kälte von Migration geht und in dem auch die Frage auftaucht, die von beiden Herausgebern in ihren jeweiligen Nachworten wie eine Überschrift über die ganze Sammlung gekennzeichnet wird: wohin bleiben wir?

Stark fand ich auch einige Gedichte, die eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Altern und Sterben zum Inhalt haben, zum Beispiel ebenso messerscharf wie schonungslos Laubrascheln von Michael Buselmeier:

Wer kniet auf meiner Brust zur Nacht
wer würgt mich mit den Händen sacht
ich wehre mich nicht liege wach

Ist es der Meister der mich ruft
ist es die Mutter aus der Gruft
ist es der Duft des Salbeis

Jäh mit den Schenkeln um den Hals
der fremde Griff des Kabels als
Würgestrick schrei Alter schrei            

Daneben gibt es Gedichte, die es mit größter sprachlicher Eleganz und Formbewusstheit schaffen, zugleich ganz smooth im Lesefluss eine im Kern durchaus dunkle Symbolik zu transportieren, zum Beispiel die jeweils drei in der Sammlung enthaltenen Gedichte von Jan Wagner (an den regengott chaac, krähenghasele,  reifen) und Marcel Beyer (Aus meiner Schamküche, Der Amselpapst, Ginster).  Das Gedicht reifen, in dem es um einen Altreifenmüllberg beim bahndamm geht, mündet etwa in die fast apokalyptische, aber geradezu spielerisch leicht vorgetragene Vorstellung:

am maschinendraht gepreßt dein kindsgesicht,
da es im inneren flüstert oder summt:
„ich werde wachsen, kälter werden, dichter,
von tieferem schwarz, bis nichts mir mehr entkommt,
kein stern, kein staubkorn, nicht einmal das licht“

Natürlich schlagen nicht alle der Gedichte nur die Saiten von Tod, Sterben und Apokalypse an. Es gibt ein paar sehr schöne Texte zu Liebe, Sexualität und Beziehung, zum Beispiel das spielerisch leichte liebhaberzählen von Crauss., das von erotischem Tun und Mit-sich- Geschehenlassen handelnde und es gibt die Tage von Sascha Kokot, oder der süß-bitterlich beziehungsentlarvende rauperich von Nadja Küchenmeister:

lange nicht gesehen, rauperich, dein gesicht
war immer umständlich. Bist du müde, sag
es mir nicht, dein rücken ist erinnerlich

Ebenso finden sich einige abgefahren absurde Gedichte, etwa der Zwielichtschlager von Hannes Bajohr, der das gute alte Der Mond ist aufgegangen durch die Mangel dreht, oder das deftigst Genderexzesse penetrierende Schwänze in die Tonne von Urs Allemann:

Ich hatte den alten Carruthers mit dem Spaten niedergeschlagen
Ich riss ihm den Schwanz ab, riss mir meinen ab,
warf sie alle beide in die Tonne.
Das ist ein Gedicht.
Ich behaupte, dass das ein Gedicht ist.

Es wird eins. Es ist noch nicht fertig. In Strophe 2
wurde die Tonne, in Strophe 1 so passiv,
dass die Gendersachverständige ständig die Stirn runzeln musste,
aktiv und legte vier Eier.           

Es gibt einige ebenso subtile wie kreativ sprachspielerische Texte, zum Beispiel die Gedichte von Uljana Wolf, die sich einer deutsch-amerikanischen Sprachmelange bedienen, wie etwa in Geheimes Madrigal:

oh niemand soll bewundern meiner Töchter haar
soll marveln ihr haar oder gar marmeladen ihr haar
ich allein darf madly beladen mit blicken ihr haar

Es gibt Gedichte, die das klassische Thema Gedicht über Gedicht mit gegenwartssensitiven Blicken aufgreifen, zum Beispiel Gedichte sind halbe Hähne von Armin Steigenberger oder Das letzte Gedicht von Michael Krüger:

Schluss mit der Poesie. Die Welt bewaffnet
sich wieder, der Mörtel wird angerührt
für die hohen, unzerstörbaren Mauern

Es gibt im Kapitel mit den Nachdichtungen aus anderen Sprachräumen so tolle Texte wie Vaters alte blaue Strickjacke von Anne Carson oder Es geht wenn jemand fragt von Valérie Rouzeau, beide übersetzt von Marie Luise Knott. Und es gibt Gedichte, die es vermögen, gleich bei der ersten Lektüre stark zu leuchten und bei jeder weiteren noch mehr, mein Lieblingsbeispiel hierfür: Offen spricht dein Seelentier von Yevgeniy Breyger:

1.
 
Offen spricht dein Seelentier,
menschlich seine Augenzahl.
Mitten durch die Zellmembran,
küsst sich ein geheimer Wind,

trittst du in mein Leben ein.

Wer mir dein Geheimnis nennt,
wird mit Liebe ausradiert.
Sieben freie Jahre lang,
dumme kurze Tage lang

achtsam sein als Todesgott.

Die hier geschaffene Verbindung von formaler Strenge und freier Assoziation, von ironischer Leichtigkeit und hintergründigem Sinn, von kühner Gedankenverbindung und fokussierter Schwerpunktsetzung ist für mich eine sehr gegenwärtige Ausdrucksform von dem, was Immanuel Kant als das freie Spiel von Einbildungskraft und Verstand als das Signum des Ästhetischen bezeichnet hat.

Neben solchen Highlights enthält das Jahrbuch aber auch nicht wenige Texte, die bei der ersten Lektüre mit ihrer spröden Verkopftheit leichte Kopfschmerzen und bei jeder weiteren größere verursachen können. Das kann man mögen, muss man aber nicht. Auch wenn das Jahrbuch der Lyrik ja nie als Hort von Frohsinn und Leichtigkeit daherkommt, hätte ich mir hier eine etwas andere Gesamtmischung wirklich gewünscht, was auch die Chance darauf, dass nicht nur ausgesuchte Gegenwartslyrikfreaks in ein solches Buch reinschauen, leicht erhöhen könnte. Aber sei‘ s drum. Ich bin ja schon zufrieden, wenn ich hinreichend viele für mich spannende Gedichte in einem solchen Jahrbuch entdecke und zumindest eine Handvoll, für die ich auch noch Jahre später das Buch wieder aufschlagen werde. Und in diesem Sinn bin ich fündig geworden.    


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