Jahrbuch der Lyrik 2019
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Stefan Hölscher
Spannende
Unterschiede zu früheren Jahrbüchern
Wenn man ein neu erschienenes
Jahrbuch der Lyrik liest, achtet man unweigerlich auch auf Unterschiede zu
früheren Ausgaben. Bei der Lektüre des mittlerweile dreiunddreißigsten, von
Christoph Buchwald als Dauerherausgeber und diesmal zusammen mit Mirko Bonné
herausgegebenen, und wieder bei Schöffling verlegten Jahrbuchs war mein
Eindruck, dass die Anzahl gut begehbarer Gedichte im Unterschied zu solchen,
die es den Lesenden auch bei wiederholten Anläufen schwer machen können, einen
Zugang zu finden, deutlich gestiegen ist. Die Frage, ob dieses Phänomen der
Textauswahl den Herausgebern geschuldet ist, ob sich darin eine allmählich sich
verändernde Produktionstendenz der Lyrik Schreibenden ausdrückt oder ob es
einfach nur ein subjektiver Eindruck von mir war, wäre sicher nicht ganz leicht
zu klären. Und vielleicht handelt es sich ja auch um eine Mischung aus alledem.
Ich habe es jedenfalls eindeutig als positiv wahrgenommen, deutlich mehr Gedichte
als in vergangenen Ausgaben des Jahrbuchs zu finden, die sich mir als Leser
einladend öffnen.
Jahrbücher der deutschen Lyrik
sind bekanntermaßen kein Hort von durch Witz und spielerischer Leichtigkeit
dominierten Texten. Deutlich eher zu finden ist dann schon feine Ironie. Dies
ist auch in dieser Ausgabe nicht anders. Nichtsdestotrotz habe ich hier, und
auch darin scheint mir ein gradueller Unterschied zu früheren Ausgaben zu
liegen, zum einen besonders viele Texte entdeckt, die subtile Ironie durchweht,
zum Beispiel Komische Symmetrie von
Karin Fellner („Notabene: „Du Knödel auf meinem Teller/ gibst dich bereitwillig
hin./ So will auch ich mich bereiten,/ meinen künftigen Essern/ ein guter
Knödel zu sein.““), Das schwarze Leben
von Mortesa („So vergehen die Tage./ Du sammelst Socken, wischst Krümel auf./ …
Bis du erkennst:/ Das alles ist nur für dich bestimmt./ Du bist der
Auserwählte.“) oder franz de hamilton:
konzert der vögel von Jan Wagner („störche, sperlinge und nachtigallen./
nur der uhu nicht, den ein paar leute,/ die üblichen strolche an die scheune
nageln/ wie irgendwelche thesen, ein pamphlet.“)
Daneben gibt es Texte, die wunderbar
mit Absurdität spielen, zum Beispiel Mulke
von Marcel Beyer („Dein letztes Wort wird ein Scheißwort/ sein. Ein Wort wie
Sessel-Zumba./ Ein Wort wie Hooliganwissen./ Auch Eiweißmulke käme in Frage.“) und
sogar einen Text, der in gereimter Liedform daherkommt und ganz ungeniert
schräge Komik verbreitet: Dorfspaziergang
von Henning Ahrens („da thront der deutsche Michel – im Nachthemd auf dem
Dach,/ halb wandelnd, halb verharrend, – halb schlafend und halb wach;“). Das
dreiunddreißigste Jahrbuch (re)präsentiert – so mein Eindruck – insgesamt etwas
weniger Sprödigkeit und eine Portion mehr Leichtigkeit, wenngleich hier meines
Erachtens grundsätzlich noch Luft nach oben wäre, insbesondere wenn man den
spielerisch und gleichwohl substanzreichen Umgang mit Sentiment hinzurechnet
(wie ihn etwa ein Gedicht, wie das im Jahrbuch 2017 abgedruckte „Noch fünf
Tage“ von Yevgeniy Breyger realisiert).
Unterteilt ist das aktuelle Jahrbuch
in neun Kapitel, die um motivische Gravitationsfelder kreisen und wie üblich Wendungen
aus den Gedichten als Titel tragen. So geht es etwa in Kapitel 1, den Rhapsodien vom Verlieren, um Begegnungen mit
Vergangenem, Verpasstem, Verlorenem, worauf so verschiedenartig Bezug genommen
wird, wie etwa in dem lakonisch grotesken Schleudertraum
von Herbert Hindringer („Das war mein Lieblingsatemzug, meinte mein Vater/
und warf sich vor einen heran rauschenden Schlaf“), oder in dem sanft lyrisch beschreibenden
am grund von Nadja Küchenmeister
(„niemand wusste so genau, wie spät es war/ wenn es zu spät war: ich kam
zurück/ ein luftzug nahm mich bei der hand …“) oder in dem Scham und Schuld geheimnisvoll
berührenden Gedicht Die Gabe von Rike
Scheffler („Ich gebe dir einen Gegenstand, einen kleinen aus Holz/ oder
Plastik, zur Aufbewahrung deiner Scham.“)
Das sechste Kapitel Oh, oh Chamäleon versammelt Gedichte rund
um Liebe, Beziehung und Beziehungslosigkeit. Und auch wenn sich diese in
gewisser Hinsicht unter den Vers von Sünje Lewejohann „das beste ist, was wir
nicht bekommen“ wie unter eine Gesamtüberschrift setzen ließen, so reduzieren
sie sich doch keinesfalls auf zerstörte oder nie zum Leben erwachte
Beziehungen, sondern erweisen sich als außerordentlich farbenreich. Besonders
schillernd fand ich in diesem Kapitel ICH DREH MIR NOCH EINE von Ernest Wichner,
in dessen abschließenden Versen das lyrische Ich sich selbst als Spiegel seines
Gegenübers zum Verschwinden bringt („dass ich verkehrt herum dich angeschaut/
dein spiegel bin, in dem ich selbst spurlos verschwinde.“), aber auch das vom
Duktus her konträre, eine untrennbare Melange aus Sex Appeal, Verfall und
körperlichen Merkwürdigkeiten in schonungsloser Direktheit zeichnende und
gleichzeitig ironisch brechende Gedicht Oh
Happiness von Ursula Krechel („die Freundin leckt die Zehenzwischenräume/ reckt
sich – ich nehme den Kindmann/ in den Arm, er saugt an meinem Schlüsselbein/ es
pfeift, es singt ein unerwartet Instrument“).
Um ein ähnlich zeitloses
Motivfeld wie die Kapitel 1 und 6 kreist auch das 7. Kapitel, das, wie sein
Titel Ein frischer Wind macht husch bereits
nahelegt, der poetischen Referenz auf
Naturphänomene gewidmet ist und eine
ganz Reihe spannender Texte enthält, zum Beispiel zuerst siehst du die blätter von Lutz Seiler, sommerfliege von Carl-Christian Elze, (Vanadium) von Sylvia Geist oder Maitag von José Oliver.
Nicht in allen Kapiteln fand
ich die Zuordnung der Texte in jedem Fall so nachvollziehbar wie in den
erwähnten dreien, aber der Versuch von
Eindeutigkeit wäre hier vermutlich auch von vornherein zum Scheitern
verurteilt. So ließen sich in der Sammlung des Jahrbuchs durchaus auch noch
andere Motivlinien, als die mit den gewählten Kapiteln angedeuteten, identifizieren.
Aufgefallen sind mir etwa eine ganz Reihe von Texten mit einem wunderbar
schrägen Selbstbezug zum lyrisch-reflexiven Du, zum Beispiel als siebtes von Sünje Lewejohann, Komische Symmetrie von Karin Fellner, Mulke von Marc Beyer oder von Karin
Preiwuß: „Alte Steinfresserin mit deinem Klingelbeutel./ Dein Echo
stimmt nicht doch dein Flummi glimmt noch.“
Die Auswahl der Texte zu einem
solchen Jahrbuch ist eine Arbeit, die allein schon durch ihren Umfang, mit der
Sichtung von mehreren Tausend Einsendungen, nicht nur ein Erlebnis voll
lyrischer Muße sein kann. Den Herausgebern des Jahrbuchs gebührt daher Bewunderung
und Dank für diese sicher auch kraftzehrende Leistung! Christoph Buchwald und
Mirko Bonné geben am Ende des Bandes in einem, wie ich finde, sehr
erfrischenden Dialog, Einblick in ihre Gedanken und ihre Werkstatt. Sie
sprechen darüber, welche Risiken und Fallen in Naturgedichten heute stecken, ob
es eine „ungeahnte Renaissance“ des Liebesgedichts gibt, ob jüngere und ältere
Autoren Lyrik grundlegend anders schreiben, aber auch darüber, nach welchen
Kriterien sie Gedichte für einen solchen Sammelband auswählen. Für Mirko Bonné
geht es dabei um „überzeugen, irritieren, erstaunen, inkommodieren“ (S. 227). Für
Christoph Buchwald geht es unter anderem um „das Zusammentreffen von
Sprachbildern, zwischen denen und hinter denen pur assoziativ via Klang, Zeilenfall
und Rhythmus etwas im Gedicht aufscheint, was in den Wörtern selbst nicht
steht.“ (S. 228) Beide schwingen sich in ihrem Gespräch allerdings auch zu
Bewertungen auf, die ich zumindest für diskussionswürdig halte. So tut Mirko
Bonné eine grundsätzliche Ablehnung gegenüber politischen Gedichten kund. Und
Christoph Buchwald sieht Lyrik offenbar als ein Erkenntnisinstrument, in dem
„Zusammenhänge unserer condition humaine
in Sprachklang, Rhythmus und Sprachbild sichtbar gemacht werden können wie in
keinem anderen literarischen Genre.“ (230) Hier ließen sich sicher auch gute
Gründe für andere Sichtweisen finden.
Um aber auf das Thema der
Unterschiede zu früheren Jahrbüchern zurückzukommen. Neben den zumindest von
mir als erfreulich verbuchten Unterschieden gibt es für mich auch einen kleinen
und einen etwas größeren Schönheitsfehler in diesem Buch. Der kleine: die in
Kapitel 5 gezeigten grafischen Textdarstellungen sind, etwa auch im Unterschied
zu solchen Darstellungen im Jahrbuch 2017, von drucktechnisch so bescheidener
Qualität (Sparmaßnahme?), dass man meines Erachtens auf sie dann doch lieber
ganz verzichten sollte. Der größere: In früheren Ausgaben des Jahrbuchs gab es
häufig auch ein Kapitel mit Nachdichtungen aus anderen Sprachen. Ich habe in
jedem der letzten Jahrbücher immer nur eine gute Handvoll Gedichte gefunden,
die mich wirklich nachhaltig beschäftigt und beeindruckt haben. Einige davon
stammten regelmäßig aus dem Kapitel der Nachdichtungen. Würde es in Zukunft
wieder aufgenommen, wäre ich sicher nicht der Einzige, den das erfreut.
Nichtsdestotrotz: Das Jahrbuch
2019 verdient viele Leserinnen und Leser. Vermutlich mehr als die Auflage
hergibt.
(Christoph Buchwald, Mirko
Bonné:) Jahrbuch der Lyrik 2019. Frankfurt a.M. (Schöffling & Co.) 2019.
248 Seiten. 22,70 Euro.