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Jahrbuch der Lyrik 2017

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Michael Braun


Ganz kleine Verschiebungen


Eine Begegnung mit dem „Jahrbuch der Lyrik 2017“



„Gibt es einen poetischen Generationenvertrag?“ hat Michael Lentz einmal in einer Nachbemerkung zum „Jahrbuch der Lyrik 2005“ gefragt: „Machen die Jüngeren das, was die Alten versäumt haben – nach Meinung der Jüngeren? Beherrschen die Älteren >die Szene< -  solange, bis die Jüngeren  selbst wieder an deren Stelle treten, als Ältere? Oder ist dieser Generationenvertrag bloß ein doppeltes Täuschungsmanöver: Erweisen sich die Älteren als unverhofft frisch(er) und unverbraucht(er), während die Nachhut bereits Vergreisung zeigt?“ Lentz war 2005 als Mitherausgeber des Jahrbuchs angetreten, um just diese These vom Avantgardismus der Älteren gegen die evidente Betulichkeit der lyrischen Nachgeborenen materialreich zu belegen. Er dokumentierte die Lautgedichte, Schrift-Ekstasen,  lettristischen Leidenschaften und visuellen Poeme seiner poetischen Heroen Franz Mon, Carlfriedrich Claus, Hartmut Geerken oder Oskar Pastior, um ihre ästhetische Superiorität gegenüber der mageren Meinungs- und Gedankendichtung der jüngeren Kollegen ostentativ vorzuführen. Er gab aber auch den Gegenpositionen von lyrischen Traditionalisten wie Robert Gernhardt oder Richard Pietraß ihren Raum. Diese sprachexperimentelle Nuancierung des Jahrbuchs der Lyrik hat in der 38jährigen Geschichte dieser bemerkenswerten Anthologie noch zwei weitere Male stattgefunden: als 1986 Elke Erb und 2008 Ulf Stolterfoht als Co-Herausgeber von Jahrbuch-Erfinder Christoph Buchwald fungierten und sich für eine sprachversessene Poesie „gegen die Leserichtung / mit der gerechnet wird“ (Oskar Pastior) einsetzten.

Wenn man die rhetorische Frage nach dem poetischen Genera-tionenvertrag im Blick auf das aktuelle Jahrbuch der Lyrik noch einmal stellt, dann sind einige nüchterne Befunde fällig:

1) Das Jahrbuch der Lyrik hat sein Alleinstellungsmerkmal als wichtigstes und verlässlichstes Navigationssystem für die Sondierung der Gegenwartslyrik eingebüßt. Die erfolgreichsten Lyriker(innen) der mittleren Generation, Sprachkünstler wie Marcel Beyer, Nico Bleutge, Nora Bossong, Ulrike Draesner, Marion Poschmann oder Monika Rinck haben offenbar die Lust daran verloren, beim Jahrbuch Gedichte einzureichen. So fehlen im Jahrbuch der Lyrik 2017 viele prägende Autoren. Das hat mit einer Pluralisierung des Lyrik-Markts zu tun: Die öffentlichen Plattformen und Anthologiestandorte für Lyrik haben sich in den vergangenen Jahren signifikant und stetig erweitert, die poeto-logischen Newsrooms ebenso.


2)  Die intensivsten Lyrik-Jahrbücher, die Jahrgänge 1984, 1985 und 1986, leben von einem osmotischen Austausch zwischen den poetischen Generationen, einem großen Facettenreichtum, der aufregenden Mischung von bekannten und unbekannten Autoren, einer belebenden Konkurrenz der unterschiedlichen Schreibweisen. Im aktuellen Jahrbuch macht sich die ältere Generation rar – Ausnahmen wie Michael Buselmeier, Günter Herburger, Johannes Kühn, Friederike Mayröcker und Anne Dorn bestätigen die Regel. Seltsam ist in diesem Zusammenhang, dass Christoph Buchwald in seiner Nachbemerkung das Gedicht „der späten 80er Jahre“ als „vor allem ego-zentriert“ qualifiziert – denn gerade die Jahre zwischen 1984 und 1990 waren die stärksten des Jahrbuchs.

3) Trotz der Relativierung seiner Zentrums-Funktion bleibt das Jahrbuch der Lyrik ein unverzichtbarer Seismograph bei der Vermessung der zeitgenössischen Poesie. Zwar ist in der neuen Ausgabe die Abwesenheit wichtiger Autoren augenfällig – aber sie wird wettgemacht durch die zahlreichen Entdeckungen junger Lyriker, die dieses Jahrbuch zu bieten hat.
Es gibt hier eine starke Präsenz von Dichter(inne)n aus Leipzig, die am Deutschen Literaturinstitut studieren: Die Gedichte von Sandra Burkhardt, die sich sehr subtil Petrarcas Liebesdichtung anverwandeln, oder Katja Sophia Ditzlers Poem „ich destilliere fluide für den heiligen gral“, das seine lyrische Suchbewegung in ungewohnter Manier skaliert, sind nur zwei kleine Höhepunkte in diesem Feld starker lyrischer Novizen.

4) Das politische Gedicht ist wieder da, notiert lakonisch die Co-Herausgeberin Ulrike Almut Sandig: „ – aber unter neuen Vorzeichen.“ Das Kapitel „Völkerball“ versammelt zum Beispiel Gedichte, die auf die Flucht- und Migrationsbewegungen unserer Gegenwart reagieren. Dagmara Kraus folgt den „flüchtigen Wörtern“ in die Fremde, die Ent-heimatung vollzieht sich hier als Ausbruchsbewegung in die Mehr- und Vielsprachigkeit – eine polylinguale Poesie entsteht. Achim Wagner protokolliert die politischen Erdbeben am Bosporus, Alexandru Bulucz rekonstruiert ein „Chemnitzer Klagelied“, „gesungen am 18. Juli 2006 vor türkischen Putschisten, flüchtigen Briten, ertrunkenen Flüchtlingen und Lenin mit Bart (Karl Marx)“. Gegen gelegentliche gesinnungsästhetische Schwerfälligkeit in diesen Grenzgängen zwischen Poesie und Politik hilft dann der leichtfüßige „letzte hasenkassiber“ von Ulf Stolterfoht, der sich mit heiteren Selbstbezichtigungen seines lyrischen Ichs („ich bin ein kleiner scheißer./ kopfheister richtung quälmeister. problem: quälmeister mehr / so in der theorie. praktisch eigentlich nie.“) langsam vortastet zu einem „schlüssel zum zauber der wörter“.

5) „Ganz kleine Verschiebungen“ im System Lyrik seien die einzigen Fortschritte, die ein Dichter mit der Ambition der absoluten Modernität zustande bringen könne, hat Ernst Jandl einmal gesagt. In etlichen Gedichten des aktuellen Jahrbuchs der Lyrik sind diese kleinen Verschiebungen zu spüren. Aber auch die Töne aus versunkenen Epochen sind zu hören – etwa in dem Benn-Sound, den Michael Wildenhain anstimmt oder in der rilkeanischen Virtuosität von Kornelia Koepsell, die ein Liebespaar im Park beobachtet: „Gäb es nicht die Dämmerung, die heimlich / von hinten her das grüne Reich durchtränkt /mit einem faden Gelb. Schon ist das frisch/ gewesene Gesicht der Braut verblüht. / Die Blätter krümmen sich, vom Tod versengt, / und durch die Zweige rauscht das alte Lied.“
Aber wenn man nun in diesem aktuellen Jahrbuch auf die Suche gehen will, „nach einem deutschen Gegenwartsgedicht, auf das man stolz sein kann“, wie das Matthias Politycki im Jahrbuch 2005 tat – wo wird man fündig? Mindestens an drei Orten: Bei der Golgatha-Szene etwa („Karfreitag“), die Dieter Schönecker in die fundamentale Existenzfrage münden lässt („warum hast du uns verlassen? wer wollte uns beneiden?/ dann riss der himmel auf. jetzt weißt Du, wie wir leiden.“); bei dem zwischen Mörike-Schwermut, hohem Stefan George-Ton und Barock-Deutsch changierenden Kindheits-Poem von Michael Lentz, das die offenen Grenzen zwischen Erinnern und Vergessen auslotet. Und, nicht zuletzt, bei den Bildgedichten von Uljana Wolf, verfasst im Modus eines Stenogramms: „ – der mond am zungendunkel – schwieg sich aus...“



Christoph Buchwald / Ulrike Almut Sandig (Hrsg.): Jahrbuch der Lyrik 2017. Frankfurt a. M. (Schöffling & Co.) 2017, 232 Seiten, 22,00 Euro.

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